Poesie aus dem Streifenwagen
Brünner Internetprojekt verwandelt Polizeiberichte in Gedichte. Beamte und Bürger sind begeistert
18. 2. 2015 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: Frettie
„Mit einer Flasche in der Hand
läuft er unvorsichtig im Zickzack
zwischen Autos
und Straßenbahnen
in der Bahnhofstraße umher“
„Ein unbekannter Mann
hielt angeblich Ausschau nach Zügen
doch in einem Augenblick legte er sich
auf das nächste Gleis“
Es geht um tragische Schicksale, unheimliche Verbrechen und absurde Vergehen. Wer hätte gedacht, dass diese schaurig-schönen Gedichte den nüchternen Berichten der Brünner Polizei entstammen? Seit Juli vergangenen Jahres erscheinen sie auf der Facebook-Seite „Městská Poezie Brno“ („Stadtpoesie Brünn“). Bisher zählt die Seite mehr als 4.000 Anhänger, zu denen auch die städtische Polizei selbst gehört. „Am Anfang dachten wir, man will sich lustig über unsere Arbeit machen. Aber nach einigen Tagen haben wir gesehen, dass es ein sehr liebenswürdiger Humor ist, der aus den Zeilen spricht, also haben wir einfach mitgemacht“, sagt Jakub Ghanem, Pressesprecher der Brünner Polizei. Inzwischen unterstützt die Behörde das Internetprojekt. Gemeinsam brachten sie im November 2014 den ersten Gedichtband „Hořící pařez“ („Brennender Baumstumpf“) heraus.
Den poetischen Zauber, der sich hinter den Polizeiberichten verbirgt, entdeckten die Brünner Soziologin Kateřina Čadová und Marek Picha, der an der Masaryk-Universität Philosophie lehrt. Presseberichte der Polizei erschienen schon seit längerem in den Lokalteilen von Tageszeitungen, wie Picha sagt. Ihm gefielen daran vor allem das Spiel mit den Worten, die ungewöhnlichen Stilmittel und absurden Verwicklungen. „Von Zeit zu Zeit tauchen darin unerwartete Wendungen auf, Phrasen und seltsame Wortverknüpfungen“, so Picha. „Es geht uns aber nicht darum, Literatur zu produzieren, wir wollen den Humor hervorheben. Wenn dabei zufällig etwas herauskommt, das für den Leser auch eine ästhetische Qualität hat, ist das gut. Wir suchen Passagen aus, die lustig und verspielt sind, und die eine eigene Geschichte erzählen“, erklärt der 38-Jährige die Absicht der Stadtpoeten. Die ausgewählten Texte teilt er dann in Zeilen auf, beseitigt die Interpunktion und tauscht Großbuchstaben durch kleine aus. „So sieht das Gebilde aus wie ein Gedicht.“ Ansonsten würden Picha und Čadová keine Eingriffe vornehmen.
Die Texte selbst stammen aus der Feder von Ghanem und seinen Kollegen von der Abteilung für Schutz und Vorbeugung. Die Berichte verfassen sie stets in einem ernsthaften Ton. „Aber wenn etwas Interessantes, Außergewöhnliches oder Lustiges in Brünn geschieht, versuchen wir es leichtfüßiger zu schreiben, um zu zeigen, dass sich Polizeiarbeit nicht nur um Verbrecherjagd dreht“, erklärt Ghanem. „Manchmal wollen wir Geschehnisse auch so lebendig und farbenfroh beschreiben wie sie passieren und die Leute zum Lachen bringen.“
Das scheint den Autoren zu gelingen. Täglich wächst die Zahl der Gefällt-mir-Angaben auf der Facebook-Seite. „Das Echo ist durchgehend positiv. Die Brünner machen gern Spaß über die Brünner“, bestätigt Picha. Besonders freut er sich über die Zusammenarbeit mit der Polizei, die sich sehr entgegenkommend verhalte. „Die Polizei hat es völlig richtig nicht als Versuch aufgenommen, ihre Arbeit lächerlich zu machen, sondern als Versuch, sie zu schätzen und sich zugleich über die absurden Momente im Brünner Stadtleben zu amüsieren“, meint Picha.
Auch die Polizei profitiert von ihrer unbeabsichtigt poetischen Arbeit und erfreut sich zunehmender Beliebtheit bei den Bürgern der mährischen Stadt. Durch den Verkauf der in Buchform erschienenen Gedichtsammlung kamen mehr als 40.000 Kronen zusammen (etwa 1.400 Euro), die die Polizei einem Tierheim spendete. Ein weiterer Gedichtband ist geplant, ebenso wie öffentliche Diskussionsrunden mit Vertretern der Behörde und den beiden Köpfen hinter „Městská Poezie Brno“.
Den Reiz dieser Poesie haben inzwischen auch andere tschechische Städte entdeckt. Eine Facebook-Seite mit den lyrischen Passagen der lokalen Polizeiberichte gibt es im mährisch-schlesischen Opava, im nordböhmischen Liberec, im mährischen Prostějov und in der Hauptstadt. Eine Zusammenarbeit zwischen den Stadtpoeten gäbe es jedoch nicht, sagt Picha. „Die jeweiligen Autoren haben uns gefragt, ob sie dasselbe machen dürfen. Dagegen haben wir natürlich nichts. Im Gegenteil, wir begrüßen es. Darüber hinaus gibt es aber keine Kommunikation.“
Auch in Zukunft wollen Picha und Čadová die Gedichte auf Facebook veröffentlichen. „Wir werden aber unser Tempo drosseln. Und mit Spannung auf neue Spuren der Poesie in den Berichten warten.“
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?