„Da wächst etwas Neues“
Der Erzbischof von Prag Dominik Kardinal Duka über die Rolle der Kirche in der heutigen Gesellschaft
16. 1. 2013 - Interview: PZ
Herr Kardinal, wie schätzen Sie die gegenwärtige Lage der katholischen Kirche in Tschechien ein?
Duka: Momentan befindet sich die Kirche in Tschechien in einer Situation des Kampfes. Es ist kein Kulturkampf. In Tschechien sind die Fragen des Geldes und des Eigentums immer das Hauptproblem. In dieser Hinsicht gibt es Spannungen im Parlament oder auf anderen politischen Ebenen. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass dies nicht das Hauptthema im Blick auf die Kirche ist. Die Probleme der römisch-katholischen Kirche in Tschechien sind komplex. Sie durchlebte im 20. Jahrhundert eine wechselvolle Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg sind in Böhmen 25, in Mähren 15 Prozent der Bevölkerung in die tschechoslowakische Kirche eingetreten. Im Zweiten Weltkrieg haben wir nach der Vertreibung der Sudetendeutschen wieder ein Viertel verloren.
Also: Schon vor dem kommunistischen Putsch hatte die Kirche im Laufe des 20. Jahrhunderts im Rahmen der tschechischen Nation etwa 40 Prozent ihrer Mitglieder eingebüßt. Dann kamen die Verfolgung der Kirche und die Einführung des Atheismus in den Schulen hinzu. Nach der Wende im November 1989 mussten wir wieder bei Null anfangen. Es war eine große und schwere Aufgabe, die Strukturen der Kirche wieder neu aufzubauen: das Ordensleben, das Leben in den Diözesen und Pfarrgemeinden. Und das nun in einer Situation der Freiheit, ohne staatliche Kontrolle. Hinzu kamen in den letzten 20 Jahren die demografische Entwicklung, die massive Überalterung, der einschneidende Rückgang der Geburten. Ich sage ganz offen: Die tschechische Nation stirbt aus. Das hat auch Folgen für die Kirche…
Vor gleichen Problemen stehen auch die Länder im Westen…
Duka: Ja, aber das Problem bei uns ist auch, dass im Laufe der letzten 20 Jahre der Staat und die staatlichen Institutionen ihre Autorität verloren haben. Bei der Volkszählung hat die Hälfte der Bevölkerung keine Antwort auf die Frage nach der Mitgliedschaft in der Kirche gegeben. Aber nach der Zahl der Taufen können wir sagen, dass 40 Prozent der Einwohner Christen sind. Etwa 90 Prozent davon sind römisch-katholisch. Das sind ungefähr 3,7 Millionen Menschen. Die anderen kommen aus anderen Kirchen. Es gibt die lange kulturelle Tradition der evangelischen Kirche, vor allem der Böhmischen Brüder. Hinzu kommen momentan die vielen Immigranten aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, aus der Ukraine und Weißrussland. Auf diese Weise ist die orthodoxe Kirche eine starke Kirche, auch mit politischem Einfluss, geworden.
Viele haben, zum Beispiel auch in der ehemaligen DDR, gehofft, dass nach dem Ende des Kommunismus, nach der Befreiung vom Druck der brutalen oder subtilen Verfolgung das kirchliche Leben wieder neu aufblühen würde. Diese Hoffnungen wurden, wie wir heute sehen, massiv enttäuscht. Was sind für die Kirchen die noch heute wirksamen Folgen des Kommunismus?
Duka: Die Situation bei uns ist ganz anders als in der ehemaligen DDR. Die Kirche als eine Institution mit klaren Perspektiven ist nach der Wende schwächer geworden. In den Pfarrgemeinden haben wir an Kraft verloren. Aber unsere Leute arbeiten als Professoren an den Universitäten, in der politischen Administration, im Staat, in der Justiz, sind Seelsorger beim Militär und in den Gefängnissen. In diesem Sinne ist der Einfluss der Kirche stärker geworden. Ein wirkliches Problem ist die Veränderung der Mentalität der Menschen durch die neuen Technologien. Die jungen Menschen bei uns bleiben in den Städten. Die jüngere Generation besteht aus Menschen, die auf den Gymnasien und Hochschulen waren. Das ist auch für die Priester eine große Herausforderung. Die Pfarrgemeinde mit einem Mann an der Spitze, der alles weiß und richtet, ist vorbei. Gefordert sind neue Formen der Kollegialität und der Zusammenarbeit. Da wächst etwas Neues in einer neuen gesellschaftlichen Situation.
Kirche wird von vielen, vor allem von Jüngeren, heute als eine Institution wahrgenommen, die nicht will, dass sich wirklich etwas ändert, die beharrt auf überholten Positionen, als eine Institution, der die Lebenskompetenz fehlt. Das lässt sich ablesen an den Diskussionen etwa zur Sterbehilfe oder zur Stammzellenproblematik. Wie nehmen Sie die gesellschaftliche Entwicklung wahr?
Duka: Unsere Ängstlichkeit in der Kirche hat eine Wurzel darin, dass wir eine Institution der älteren Generation sind. Wir sind ängstlicher als die jungen Leute. Wir wollen keine Abenteuer. In dieser Hinsicht müssen wir vermitteln, dass die Kirche nicht unser „Geschäft“, nicht unser „Betrieb“, nicht unser „Besitz“ ist, sondern dass sie Gott gehört und es ihr unbedingt um die Fragen der Religion und des Glaubens geht. Dass es ihr darum gehen muss, dass Gott in allem gegenwärtig ist. Für diese Wahrnehmung von Kirche müssen wir angesichts der radikalen gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen einen Raum und eine Perspektive für ein sinnvolles Leben bieten.
Was ist Ihre Einschätzung der gegenwärtigen politischen Situation in Europa? Tschechien ist ja auch davon betroffen, bekommt auch die Quittung dafür, dass wir über unsere Verhältnisse gelebt haben.
Duka: Es gibt auch in dieser Frage einen Unterschied zwischen den westlichen Ländern und uns. Unser Problem nach einer 40-jährigen Diktatur ist momentan, dass jede Partei, wenn sie an der Regierung ist, nach dem Muster der kommunistischen Partei verfährt. Sie denkt: Der Staat und das Land sind Eigentum unserer Partei. Das ist wirklich ein zentrales Problem in unserem Land. […] Die Freiheit ist Gottes Geschenk. Wir dürfen sie nicht verantwortungslos missbrauchen. Die Freiheit gibt uns auch Raum für die Liebe zur Nation, zu diesem Land, zu dieser Gesellschaft – nicht im nationalistischen Sinn. Diese Perspektive der Liebe zum Volk haben unsere Parteien verloren, allerdings nicht alle Politiker.
Wie kann man diese Perspektive zurückgewinnen?
Duka: Das ist schwierig. Nehmen wir nur einmal das Thema der sogenannten Restitution der kirchlichen Güter, also der Rückgabe von Kirchenbesitz, der uns in der kommunistischen Zeit genommen wurde. Es gibt nun eine Änderung in der staatlichen Finanzierung der Kirche, wir bekommen Entschädigung in Form von Geld, wir bekommen ein paar Immobilien zurück und werden nicht mehr vom Staat bezahlt. Das ist alles. Aber das Problem ist: Es gibt keinen Dialog. Jede Partei spricht nur ihre eigene Sprache und ist nur Fan-Gruppe ihrer Mitglieder, überwindet ihre Sprachbarrieren nicht. Es gibt für sie nur die jeweils eigene Wahrheit. Das ist wie im Fußballstadion: Die Fan-Gruppen kommen nicht in Kontakt miteinander. Sie kennen nur sich.
Das Gespräch führte Michael Albus, Theologe und Chefredakteur der Zeitschrift „Ost-West Europäische Perspektiven“. Es erschien in voller Länge in der aktuellen Ausgabe mit dem Schwerpunkt „Die Tschechische Republik“.
Ost-West: Tschechien im Schwerpunkt
„Die Geschichte schlägt gelegentlich seltsame Haken“, heißt es im Editorial des aktuellen Vierteljahreshefts „OST-WEST Europäische Perspektiven“ (OWEP), das den Schwerpunkt auf die Tschechische Republik legt. Konkret ist damit gemeint, dass es seit 1990 einen deutschen Staat und seit 1993 zwei Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei gibt. Dabei sind beide Nationen eng miteinander verbunden – sei es aus historischer, politischer, kultureller oder wirtschaftlicher Sicht.
Namhafte Experten informieren in der Zeitschrift auf 80 Seiten nicht nur über die Geschichte und aktuelle Entwicklungen des Landes, sondern auch über die neuere tschechische Prosaliteratur und vor allem über das Verhältnis der Tschechen zu Deutschland. Denn die vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) und dem Osteuropa-Hilfswerk Renovabis herausgegebene Zeitschrift soll dazu anregen, über „das Verhältnis zwischen zwei engen Nachbarn in Mitteleuropa nachzudenken“.
In der Rubrik „Erfahrungen“ kommen junge Tschechen und Deutsche zu Wort, die über ihr Leben und ihre Eindrücke im Nachbarland berichten. So etwa eine deutsche Studentin, die im vergangenen Jahr als Freiwillige der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ in Olomouc mit ehemaligen NS-Zwangsarbeitern zusammenkam. Ihr in Nordböhmen geborener Großvater war nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden, nun traf sie Tschechen, denen von Deutschen Unmenschliches abverlangt wurde. Der Historiker und Politologe Ondřej Matějka gewährt wiederum persönliche und allgemeine Einblicke in das deutsch-tschechische Verhältnis. Als Leiter der Bürgerinitiative „Antikomplex“, die in der tschechischen Gesellschaft eine differenzierte Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte in Böhmen, Mähren und Schlesien anstoßen will, sagt Matějka: „Die erste Phase einer Aufarbeitung muss wohl Vergessen sein. (…) Ohne damit einen Vergleich zwischen deutschem Nationalsozialismus und tschechischem Kommunismus ziehen zu wollen, die Einsicht in die mentale Dynamik einer Gesellschaft nach einer Befreiung ist zweifelsohne übertragbar.“
Zahlreiche Textkästen informieren über tschechische Besonderheiten, Klischees und Themen, die Tschechien und Deutschland voneinander trennen (Temelín) und miteinander verbinden (Böhmisches Bier). Ein Interview mit Dominik Kardinal Duka über den schwierigen Stand der Kirche in der tschechischen Gesellschaft, ein Porträt des Präsidentschaftskandidaten und Außenministers Karel Schwarzenberg sowie einige Lese-Empfehlungen ergänzen den guten und facettenreichen Überblick über Tschechien, der zu einer weiteren Beschäftigung anregt – ganz im Sinne des Autorenteams.
OWEP 04/2012: Die Tschechische Republik, Verlag Friedrich Pustet, Einzelpreis: 6,50 Euro, ISSN 1439-2089, Informationen unter www.owep.de
Im Februar wird das erste Heft des Jahres 2013 erscheinen, das dem Schwerpunkt „Migrationsströme in Europa und ihre Folgen“ gewidmet ist.
„Online-Medien sind Pioniere“
Kinderwunsch nicht nur zu Weihnachten