Dem Zombie eine Seele einhauchen
Tomáš Sedláček und David Graeber diskutieren in „Revolution der Evolution“ über die Zukunft des Kapitalismus
2. 4. 2015 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Foto: Nils Bremer
Hat der Kapitalismus als Wirtschaftsmodell ausgedient? Diese Frage diskutieren der tschechische Ökonom Tomáš Sedláček und der US-Amerikaner David Graeber, einer der Vordenker der Occupy-Wall-Street-Bewegung, mit dem Journalisten Román Chlupatý. Die deutsche Übersetzung des Gesprächs ist kürzlich unter dem Titel „Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus?“ im Hanser-Verlag erschienen.
Sedláček, Dozent an der Prager Karls-Universität und Chefökonom der Tschechoslowakischen Handelsbank, hat am derzeitigen Wirtschaftssystem viel zu kritisieren – grundsätzlich bezeichnet er es aber als „das beste, das wir kennen“. Graeber, der an der London School of Economics Anthropologie lehrt, hält den Kapitalismus hingegen für nicht reformierbar. Seiner Meinung nach braucht die Welt eine neue, gerechtere Ordnung. Das bisher geltende Wohlstandsversprechen, auf dem die kapitalistische Ordnung beruhe, könne für die Mehrheit der Menschen nicht mehr eingelöst werden.
„Revolution oder Evolution“: Wer von diesem 144-Seiten-Band ein pointiertes Streitgespräch erwartet, wird enttäuscht. Denn dass sich etwas ändern muss, darin sind sich beide Wissenschaftler einig – und auch darin, dass dies angesichts der Krise eher früher als später ohnehin passieren wird. Auseinander gehen ihre Meinungen allerdings darüber, was nach diesem Wendepunkt folgen soll.
Graeber fürchtet sich nicht vor dem Chaos und wünscht sich eine Gesellschaft, „in der sich die Menschen darauf verlassen können, dass ihre Grundbedürfnisse befriedigt werden, so dass sie es sich leisten können, auf einer anderen Ebene chaotisch und phantasievoll zu sein“: ein Plädoyer für ein bedingungsloses Grundeinkommen, das die derzeitige Art zu wirtschaften radikal verändern würde. Sedláček dagegen warnt vor den Gefahren, die in revolutionären Erneuerungen liegen. Ein Systemzusammenbruch solle vermieden und lieber über eine Neuausrichtung jener Organisationsformen nachgedacht werden, die sich historisch entwickelt haben, um Arbeitsteilung zu erleichtern und Gesellschaften funktionaler zu gestalten. Diese Kritik richtet sich vor allem gegen Institutionen wie die Welthandelsorganisation oder den Internationalen Währungsfonds, für die derzeit, darin sind sich die Gesprächspartner einig, keine moralischen Maßstäbe geltend gemacht würden.
Graeber und die von ihm unterstütze Occupy-Bewegung, die sich vor Kurzem mit dem Protest gegen die Einweihung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt neu formierte, möchten ausdrücklich nicht definieren, wie alternative Systeme aussehen und welche konkreten Organisationsformen vorherrschen würden. Wandel beginnt ihnen zufolge auf der zwischenmenschlichen Ebene. Es müsse darüber nachgedacht werden, wie Institutionen auf demokratische – und menschliche – Weise organisiert werden können. Für einen Systemwandel, so pflichtet ihm Sedláček bei, müssten die derzeit geltenden Regeln des kapitalistischen Systems entideologisiert, und ihre angebliche Alternativlosigkeit in Frage gestellt werden.
Leider steht dem kreativen Sedláček das Gesprächsformat nicht sehr gut. Er bedient sich vieler Metaphern, die in der Diskussion aber nicht richtig zu Ende gedacht werden, ist oft nicht präzise in der Argumentation und gleitet ins Plaudern ab. Graebers Beiträge sind geschliffener und schlagen oft den Bogen zur Ausgangsfrage des gesprächsführenden Journalisten. Insgesamt ist der Band eine empfehlenswerte und gewinnbringende Lektüre. Graeber wie Sedláček haben etwas zu sagen. Ihr engagiertes Gespräch kommt ohne Wissenschaftsdünkel aus und ist auch für Laien gut verständlich. Darüber hinaus scheuen sich beide nicht, über den Tellerrand ihrer jeweiligen Profession zu blicken und sich den großen systemischen Fragen zu stellen – auch wenn es darauf keine einfachen Antworten geben kann.
Tomáš Sedláček & David Graeber: Revolution oder Evolution. Das Ende des Kapitalismus? Aus dem Englischen von Hans Freundl, Hanser 2015, 144 Seiten, 15,90 Euro, ISBN 978-3-446-44304-4
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