Der Staat bin ich
Der Tscheche Vít Jedlička hat auf dem Balkan die Republik Liberland gegründet. Etwa 300.000 Menschen haben sich bereits um die Staatsbürgerschaft beworben
29. 4. 2015 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Foto: Jan Husák
Was ist eigentlich ein Staat? Bestimmt er sich über eine gemeinsame Geschichte? Über Sprache, Kultur oder schlicht die Landschaft? Dass diese Definitionsversuche nicht belastbar sind, zeigen viele Beispiele – von Jugoslawien bis zum Habsburger Reich, in dem auf 676.000 Quadratkilometern zehn Sprachen gesprochen wurden. In der Praxis bewährt hat sich das Verständnis des Soziologen Max Weber. Er sieht den Staat vor allem als ein „Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“: Wichtig ist, dass die Bürger die geltenden Regeln als sinnvoll und gerecht akzeptieren.
Der Tscheche Vít Jedlička ist 31 Jahre alt und hat in der vergangenen Woche seinen eigenen Staat namens Liberland gegründet. Für ihn ist die Politik der tschechischen Regierung nicht legitim, ebenso wenig wie die anderer EU-Staaten. „Ich finde, ein Land sollte sich über gemeinsame Werte und Ansichten definieren“, beschreibt er sein eigenes Verständnis. „Ich glaube an einen äußerst beschränkten Staat und vor allem an das Recht auf Privateigentum und Selbstbestimmung über die eigenen Ausgaben.“ Steuern sollten seiner Ansicht nach freiwillig sein. Staatliche Bürokratien seien nicht besser darin, zu entscheiden, wofür Geld ausgegeben werden soll als der einzelne Bürger. Jedličkas idealer Staat zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er kaum vorhanden ist.
Vom unzufriedenen Bürger zum Präsidenten eines – bisher vor allem virtuell existierenden – Staates wurde der Tscheche am 13. April, als er mit seinen Mitstreitern die Gründung von Liberland an der serbisch-kroatischen Grenze verkündete. Sie hissten dort die dreifarbige liberländische Flagge (gelb für die Freiheit, blau für die Donau und schwarz für den Widerstand gegen das herrschende System) und riefen im Internet zur Bewerbung um die Staatsbürgerschaft auf. Das sieben Quadratkilometer große Territorium am Westufer der Donau wird weder von Serbien noch von Kroatien beansprucht und gilt somit als „Terra Nullius“ – als Niemandsland. Es leben keine Menschen auf dem Gebiet, das größer ist als das des Vatikans oder Monacos. Liberland wäre somit der drittkleinste Staat der Welt. Dass es als solcher internationale Anerkennung findet, ist allerdings eher unwahrscheinlich.
Ein symbolischer Ort
Darum geht es Jedlička aber auch nicht in erster Linie, genauso wenig, wie um eine nationale Befreiungsbewegung. Gezielt hat er im Internet nach einem Flecken auf der Weltkarte gesucht, auf den kein Land Ansprüche erhebt. Er braucht keine Rohstoffe und keine Infrastruktur sondern nur einen symbolischen Ort zur Umsetzung seiner Ideen: „In den vergangenen fünf Jahren habe ich vergeblich versucht, die Dinge hier durch klassisches politisches Engagement im Rahmen der Partei Freier Bürger zu verändern.“ Er kämpfte für weniger staatliche Regulierung, Reformen des Steuersystems und gegen den EU-Stabilitätspakt.
Jedlička, der vom „Vorbereitungskomitee“ gewählte Präsident von Liberland, glaubt, dass seine Vorstellung von einem ultra-liberalen Staat eine Chance verdient hat. Und damit steht er scheinbar nicht allein: Bis zum vergangenen Donnerstag erreichten ihn nach eigenen Angaben 270.000 Bewerbungen von Menschen, die Bürger von Liberland werden wollen. Dazu kamen Medienanfragen aus der ganzen Welt: vom Times Magazine bis Al Jazeera. Er gibt zu, dass ihn und sein siebenköpfiges Team aus Freunden und Bekannten das Interesse überwältigt. Akzeptieren könne man nur ungefähr 35.000 Staatsbürger. Der ideale Liberländer respektiere andere Menschen und ihre Meinungen „unabhängig von Rasse, Ethnie, Orientierung oder Religion“, heißt es auf der Internetseite. Er oder sie habe „keine kommunistische, nazistische oder anderweitig extremistische Vergangenheit“ und „respektiert die Unantastbarkeit des Privateigentums“.
Unter den Bewerbern, die auf Jedličkas Internetseiten Kommentare abgeben, sind auffällig viele mit arabischen Namen. Ist es möglich, dass auch Menschen aus Ländern wie Syrien oder Libyen Liberland als Zufluchtsort entdeckt haben? „Ich würde diese Leute nicht in erster Linie als Flüchtlinge betrachten, sondern als freiheitsliebende Menschen. In diesen Herkunftsländern sind Freiheiten beschränkt und sie suchen nach einem besseren Ort. Deshalb wollen sie nach Liberland kommen“, meint der Präsident. Er betont aber, dass es auch viele Interessenten aus westlichen Ländern gäbe – sogar aus der Schweiz, was er nicht ganz verstehen könne.
Schweiz als Vorbild
Die Schweiz ist neben den USA, Großbritannien und Estland eines der Länder, das als Vorbild für die Verfassung diente. Deren erster Entwurf ist seit letzter Woche auf der Internetseite Liberlands einsehbar. Sie enthält Elemente direkter Demokratie sowie die Selbstverpflichtung des Staates, Referenden online zu ermöglichen. Im Gespräch betont Jedlička vor allem die Punkte zur ökonomischen Verfassung Liberlands: Staatsverschuldung ist strikt verboten. Steuern werden ausschließlich auf freiwilliger Basis erhoben. Ein Rentensystem ist nicht vorgesehen: „In meinen Augen ist es nicht solidarisch, wenn man gezwungen wird, sein Geld für einen bestimmten Zweck auszugeben. Wenn die Menschen selber bestimmen können, werden sie auch verantwortungsbewusst handeln“, weicht das Staatsoberhaupt Fragen nach dem Schutz der Schwächeren aus.
Ebenfalls bedeckt hält er sich zum Umgang mit Spenden, zu denen auf der Internetseite aufgerufen wird. In dieser Woche seien Reisen in diplomatischer Mission geplant, Treffen mit kroatischen und serbischen Vertretern, so Jedlička. Außerdem brauche man Geld für den ersten Staatshaushalt, die Renovierung einer baufälligen Hütte, des bislang einzigen Gebäudes auf dem Staatsgebiet. Und natürlich für die Errichtung der liberländischen Börse. Eine erste Großspende von 10.000 Dollar für den Aufbau von Liberland kam vom rechts-konservativen kanadischen Geschäftsmann Brian Lovig, der in seinem Blog den Kapitalismus und das Recht auf Waffenbesitz verteidigt.
Vít Jedlička und seine Mitstreiter sind nicht die ersten und einzigen, die versuchen, ihre persönliche Utopie in einem eigenen Staat zu leben. Auf der ganzen Welt gibt es sogenannte Mikronationen, die weitgehend nach ihren eigenen Regeln funktionieren – vom Fürstentum Sealand auf einer ehemaligen britischen Verteidigungsplattform mitten im Meer bis zur Freistadt Christiania in der dänischen Hauptstadt. Nicht mal in Tschechien ist die Idee neu: 1997 rief der Schriftsteller und Fotograf Tomáš Harabiš das Königreich Walachei in der gleichnamigen Region im Nordosten der Republik aus. Die skurrile Staatsgründung inklusive Krönungszeremonie sollte die Gegend vor allem für Touristen attraktiver machen.
Wie ernst meint es Jedlička mit seiner libertären Revolution auf dem Balkan? Todernst, sagt er selbst. Der Kommentator Leonid Bershidsky plädiert in einem Artikel für die konservative amerikanische Tageszeitung Chicago Tribune ebenfalls dafür, die Initiative des Tschechen ernstzunehmen. In allen anderen Bereichen werde ständig auf Innovation gedrängt – warum sollte das im Bereich Staatenbildung anders sein? Auch die aktuelle Diskussion um die Außengrenzen der EU wirft die Fragen auf, wer das Recht hat, darüber zu bestimmen, wer wo und vor allem wie leben darf. Vít Jedlička hat seine Antwort gefunden. Er agiert nach einem alten Motto: „Der Staat bin ich.“
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