Ein anderes Chanov
Fußball verbindet in Nordböhmen Roma und Nicht-Roma. Doch dem Integrationsprojekt fehlt es an Geld
30. 4. 2015 - Text: Véronique MickischText und Foto: Véronique Mickisch
Um mehr über das Leben der Roma zu erfahren, unternahmen sechs Studenten der Freien Universität Berlin im April eine Exkursion in die nordböhmische Stadt Most und Umgebung. Im Studium beschäftigen sich Maximilian, Manuel, Marie-Lena, Roman, Anne und Véronique mit Mittel- und Osteuropa: mit der Geschichte der Region, der wirtschaftlichen Lage der Länder sowie mit der Situation der Minderheiten. Ein Teil der Gruppe hat sich schon vorher mit Nordböhmen befasst, für andere war es eine Überraschung, dass Diskriminierung von Minderheiten auch „direkt vor der eigenen Haustür stattfindet“, wie der 26-jährige Maximilian sagt. Der Unkenntnis in Deutschland will die Gruppe entgegenwirken. Mit einer Ausstellung und Informationsbroschüren sollen die Ergebnisse der Exkursion aufbereitet werden. Die Hauptrolle spielt der Fußballverein FK Chanov, der Roma wie Nicht-Roma von der Straße holt. Für die „Prager Zeitung“ berichten die Studenten über ihre Reise in die deutsch-tschechische Grenzregion.
Wenn man an Tschechien denkt, denkt man kaum an Nordböhmen. Die kleine Industrieregion im Norden des Landes, direkt an der Grenze zu Polen und Deutschland, ist von Armut, Kriminalität, Prostitution, ethnischen Spannungen und Umweltverschmutzung geprägt. Kaum ein Ort, an den es Touristen verschlägt. Das hinderte unsere studentische Initiative nicht daran, genau diese Region zum Ziel einer Exkursion zu machen. Im Rahmen eines Projektkurses am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin wollten wir uns mit den Spannungen zwischen den Roma und der Mehrheitsbevölkerung in dieser Region auseinandersetzen.
In der jüngeren Vergangenheit kam es in Nordböhmen immer wieder zu gewaltsamen rassistischen Übergriffen. Angesichts dessen und der wachsenden Diskriminierung von Sinti und Roma in ganz Europa wollten wir die Hintergründe dieser Entwicklung untersuchen. Die Idee war, uns auf das Integrationsprojekt des Fußballvereins FK Chanov zu konzentrieren, über den wir als „Roma-Verein“ einiges gehört und gelesen hatten. In einer Fotoreportage mit Spielern des Vereins wollten wir den Lebensalltag von Roma-Jugendlichen und den Einfluss des Projekts auf ihr Leben dokumentieren.
Gleich am ersten Tag in Nordböhmen jedoch sollten wir diesen Ansatz in Frage stellen: Der angebliche „Roma-Verein“ ist nämlich gar keiner. Obwohl der FK Chanov, benannt nach einem verarmten Viertel in der Nähe der Stadt Most, in den Medien häufig als „Roma-Verein“ präsentiert wird, sieht er sich selbst keineswegs so. Bei der Initiative geht es, wie die Gründer Nistor František und Peter Bažo betonen, schließlich um Integration. Eine Trennung der Roma-Kinder von Jugendlichen der Mehrheitsbevölkerung würde wenig in diese Richtung wirken. Damit spiegelt der Verein die Zusammensetzung der Bevölkerung von Chanov wider, die – ebenfalls entgegen unserer bisherigen Informationen – keineswegs nur aus Roma besteht.
Klischees überwinden
Das Viertel Chanov wurde 1978 in der neuen Stadt Most gegründet, wenige Jahre nachdem das alte Most (Brüx) in die Luft gesprengt und in ein riesiges Braunkohleabbaugebiet verwandelt worden war. Der Abbau von Braunkohle sowie die zahlreichen gigantischen Chemiefabriken prägen das Bild und Leben der Region bis heute. Damals war Chanov ein gewöhnliches Arbeiterviertel. Erst mit den Jahren – vor allem nach 1989 – kam der soziale Niedergang und es zogen zunehmend Roma in die Siedlung. Sie bilden heute den größten Teil der Bevölkerung in Chanov, wobei auch viele Familien der tschechischen Mehrheitsbevölkerung hier leben. Die offizielle Arbeitslosenrate beträgt 90 Prozent.
Bei der Vereinsgründung vor fünf Jahren ging es eigentlich um mehr als die Integration von Roma: Das ganze Viertel sollte verändert werden. Die Jugendlichen sollten von der Straße geholt, zum regelmäßigen Schulbesuch und zu sinnvollen Freizeitaktivitäten motiviert werden. Der Fußballverein sollte nur ein Anfang sein. Mit seinem Ansatz hat der Verein erste Erfolge erzielt: Mehrere Jungen machen gerade Abitur. Den Fußball setzen die Gründer und Trainer Vladimír Holub als Motivation für bessere Schulnoten ein. Wer schlechte Noten schreibt, darf für eine Weile nicht mehr zum Training kommen. Wer nur mittelmäßig abschneidet, muss beim nächsten Spiel auf der Bank bleiben.
Im Gespräch ist den Vereinsleitern von Anfang an wichtig, dass ihr Projekt dieses Mal richtig dargestellt wird. Bisherige Reportagen und Interviews haben dem Verein nicht viel gebracht. Die finanzielle Lage ist schwieriger denn je und Sponsoren zu finden, ist für den Verein, der sich nach einem der ärmsten Viertel Tschechiens benennt, nicht leicht. Sie wünschen sich, dass wir auf die klischeehaften Bilder der heruntergekommenen Siedlung verzichten. Schließlich versucht der Verein gerade, mit seiner Arbeit ein anderes Chanov zu zeigen – ein Chanov mit vielleicht armen, aber stolzen, gut erzogenen und talentierten Jugendlichen und Trainern. Damit wollen sich die Gründer abgrenzen vom Klischee der faulen und kriminellen Roma.
Das Projekt, das dem FK Chanov übergeordnet ist, heißt „Aver Roma“ – „Andere Roma“. Für die Jungen des FK Chanov sind die Spiele des Vereins fast die einzige Möglichkeit, aus der kleinen Siedlung herauszukommen. Mehrere von ihnen zählen zu den besten der Kreisliga und wollen Profifußballer werden. Beim Training sind wir nicht die einzigen Zuschauer, auch wenn wir mit unseren Kameras zweifellos die Sensation des Tages sind. Viele Bewohner der Siedlungen schauen zu und auch Kinder, die selbst noch nicht mitspielen können. Mehrere Mädchen üben am Rande des Spielfeldes Tanzen. Der Fußballplatz und der Verein sind, das merkt man sofort, ein zentraler Bestandteil des Lebens in der Siedlung geworden.
Auf der Kippe
Doch bei allem Engagement der Trainer, die ihre Arbeit ehrenamtlich machen, und der Spieler – der FK Chanov kämpft ums Überleben. Die Probleme lassen sich auf ein Wort reduzieren: Geld. Daran fehlt es an allen Ecken. Obwohl der Verein es inzwischen an die Spitze der Liga geschafft hat, kommt ein Aufstieg nicht in Frage. Dafür wären finanzielle Mittel nötig, die der Verein nicht hat. Erst im vergangenen Herbst musste er die zweite Mannschaft auflösen – von anfangs dreien ist inzwischen nur noch eine übrig. Geld für die Sportbekleidung ist ebenfalls knapp. Das Viertel hat einen schlechten Ruf im ganzen Land und kein Unternehmer war bisher willens, sich über die Finanzierung des Vereins damit in Verbindung bringen zu lassen. Regelmäßige Spender bringen im Monat nicht mehr als 40 Euro auf. Staatliche Unterstützung gibt es nur wenig. Damit steht ein beeindruckendes Projekt zur Integration von Roma und der Verbesserung der Perspektiven für sozial benachteiligte Jugendliche auf der Kippe.
Dass die Integration der Roma nicht loszulösen ist von den strukturellen Problemen ihrer Umgebung, wie zum Beispiel der hohen Arbeitslosigkeit, ist wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse unserer Reise. Wie sich der FK Chanov in den nächsten Monaten und Jahren entwickeln wird, ist unklar. Das wohl überzeugendste Argument für das Überleben des Vereins ist das beeindruckende Engagement der jungen Spieler, die mit ihrer Begeisterung für den Fußball die Vereinsleiter schon einmal davon abgebracht haben, aufzugeben. Auch in uns haben sie den Wunsch geweckt, zumindest ein bisschen zur Weiterentwicklung des Vereins beizutragen und Initiativen gegen Roma-Diskriminierung mehr Gehör zu verschaffen. Wir hoffen, dass uns das mit unserer Ausstellung in Berlin gelingen wird.
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