Bedrohte Identität
Das Hultschiner Ländchen (Teil 3): Nach dem Krieg fanden sich die Hultschiner in einem neuen Staat wieder. Die Prager Regierung wollte sie zu Tschechen machen
13. 5. 2015 - Text: Josef Füllenbach, Foto: Archiv Muzea Hlučínska
Das Hultschiner Ländchen, unscheinbar und bescheiden im Nordosten Tschechiens gelegen, zeichnet sich durch nichts weiter aus als durch sein wechselhaftes und darum unverwechselbares Schicksal im deutsch-tschechischen Spannungsfeld. Das Land und seine Bewohner sind bis heute von dieser Vergangenheit geprägt. Die „Prager Zeitung“ zeichnet in mehreren Beiträgen die eigentümliche Geschichte des Hultschiner Ländchens nach.
Seit dem 4. Februar 1920 gehörte das Hultschiner Ländchen entgegen dem Willen der großen Mehrheit seiner Bevölkerung zur neugegründeten Tschechoslowakei (ČSR). Zunächst hatte die Regierung für das Ländchen eine eigene Verwaltungseinheit geschaffen mit einem Kreishauptmann an deren Spitze. Der unterstand jedoch einem von der Regierung bestellten „Bevollmächtigten Kommissar“, Josef Šrámek, der mit umfänglichen Vollmachten ausgestattet war.
Sollte jemand gehofft haben, dieser Sonderstatus könnte darauf abzielen, den Hultschinern durch Gewährung besonderer Rechte und großzügiger Übergangsfristen die Eingliederung in das fremde Staatswesen zu erleichtern oder gar die allmähliche Entwicklung von Loyalität zu den Herren im fernen Prag zu begünstigen, so sah er sich schon bald enttäuscht. Mehrere Ereignisse konfrontierten die Hultschiner unsanft mit der neuen Wirklichkeit, dass sie nun Tschechen zu sein hatten oder es jedenfalls rasch werden sollten. Manche dieser Ereignisse leben noch heute fort im historischen Gedächtnis und tauchen regelmäßig wieder auf, wenn ein Hultschiner über sein Ländchen erzählt.
Nach etwa drei Monaten relativer Ruhe brachte die Regierungsverordnung vom 4. Mai 1920 entscheidende Veränderungen, sehr zur Bestürzung der meisten Hultschiner. Einer der wichtigsten Punkte war die sofortige Einführung der tschechischen Sprache als generelle Unterrichtssprache, für die an das altertümliche Mährisch gewöhnten Kinder fast eine Fremdsprache. Ferner wurden die noch zu preußischer Zeit gewählten Gemeindevertretungen durch ernannte Verwaltungskommissionen ersetzt. Und die Hultschiner erlangten zum 1. Mai 1920 automatisch die Staatsangehörigkeit der ČSR. Ungehört blieb der Appell der katholischen Geistlichkeit vom März desselben Jahres: „Verlangt nicht von uns, dass wir uns für diese oder jene Seite entscheiden, wir wollen mit den Tschechen und Deutschen in Frieden leben. Wir wollen Mährer bleiben und uns ein glückliches Miteinander des slawischen und germanischen Charakters erhalten.“
Der Volkszählung vom Februar 1921 kam große politische Bedeutung zu, denn sie sollte klären, wohin denn nun die Hultschiner in ihrer Mehrheit gehörten. Sie geriet damit in der öffentlichen Meinung zu einem Ersatz für das Plebiszit, das der Versailler Vertrag – anders als für die zwischen Deutschland und Polen strittigen Gebiete unmittelbar vor der Hultschiner Haustür – verwehrt hatte. Die tschechischen Behörden taten nun alles, um ein ihnen genehmes Ergebnis zu erzielen. Die Fragebogen waren nicht zu Hause von den Bürgern, sondern auf dem Amt von einem Volkszählungskommissar gemäß den Angaben und Dokumenten der Betroffenen auszufüllen. Wo solch indirekter Druck nicht reichte, konnte der Kommissar den Fragebogen nachträglich „verbessern“. Wer sich für die deutsche Nationalität entschied, aber gleichzeitig Mährisch (also die mährische Mundart, wie sie sich seit 1742 fast unverändert erhalten hatte) als seine Muttersprache angab, konnte wegen angeblich widersprüchlicher Aussage sogar mit einer Strafgebühr belegt werden.
Manipulierte Volkszählung
Das offizielle Ergebnis muss der Regierung in Prag gefallen haben, denn zur tschechischen oder mährischen Nationalität bekannten sich 83 Prozent, zur deutschen nur gut 16 Prozent. Damit schien im Ländchen die „tschechoslowakische Nation“ deutlich stärker und die deutsche Minderheit ebenso deutlich schwächer zu sein als in der ČSR insgesamt. Die Fragebögen liegen noch im Staatlichen Kreisarchiv Opava. Der Historiker Vilém Plaček hat sie ausgewertet und kommt zu dem Schluss, dass in vielen Fällen das ursprüngliche Bekenntnis zur deutschen Nationalität amtlich überstempelt ist. Der deutsche Anteil sank auf diese Weise zum Beispiel in Oldřišov (Odersch) von 87 auf 17 Prozent, in Dolní Benešov (Beneschau) von 78 auf 12 Prozent oder in Zábřeh (Oppau) von 72 auf 4 Prozent, um nur einige besonders krasse Fälle anzuführen.
Den Hultschinern muss schon damals klar gewesen sein, dass das Ergebnis der Volkszählung massiv an die Prager Erwartungen angepasst worden war. Die Bestätigung dafür brachten die ersten Gemeindewahlen im Frühherbst 1923. Trotz mancher Unregelmäßigkeiten im Ablauf der Wahlen und Behinderung der deutschen Parteien durch die Behörden entfiel auf die deutschen Listen mehr als die Hälfte der Stimmen. Dies war umso bemerkenswerter, als die sogenannten Optanten, die für die Beibehaltung der deutschen Staatsbürgerschaft und damit für die Übersiedlung nach Deutschland optiert hatten, inzwischen zum überwiegenden Teil das Hultschiner Ländchen verlassen und sich in Deutschland niedergelassen hatten, zumeist im Kreis Ratibor gleich jenseits der neuen Grenze. Dabei handelte es sich um insgesamt 4.604 Personen oder etwa 13 Prozent der Einwohner, freilich zugleich um diejenigen Hultschiner, die sich Deutschland am meisten verbunden fühlten. Im Ergebnis bedeutete dies im Ländchen eine Schwächung des deutschfreundlichen Elements, auf welches die Parteien, Vereine und Verbände gerne weiterhin gezählt hätten.
In erster Linie waren es wirtschaftliche Gründe, die so viele Hultschiner veranlassten, die engere Heimat zu verlassen. So war der Anteil der Optanten in Kravaře und Umgebung, dem Zentrum der regelmäßig tief ins deutsche Binnenland ziehenden Hausierer, besonders hoch, denn sie befürchteten wegen der neuen Zollgrenze erhebliche Einkommenseinbußen. Zudem sahen sich auch die Wanderarbeiter plötzlich abgeschnitten von ihren Arbeitsgelegenheiten, denn jetzt verleideten ihnen die bürokratischen und finanziellen Hürden der Visabeschaffung den gewohnten Broterwerb. Das alles wäre nicht so belastend gewesen, wenn es unter den neuen Verhältnissen im Hultschiner Ländchen wenigstens in der Heimat oder den wieder frei zugänglichen benachbarten Gebieten der ČSR ausreichend Arbeitsplätze gegeben hätte. Doch hier sah die Situation nicht rosig aus und gab auch keinen Anlass, auf baldige Besserungen zu hoffen. Der Wunsch nach wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit ließ deshalb die Blicke und Hoffnungen vieler immer wieder nach Norden schweifen.
Wasser auf die Mühlen
Dem Heimischwerden in der ČSR stand vor allem das Schulwesen im Wege. Aus Prager Sicht galt es ja landesweit, die Lehrpläne vom habsburgisch-katholischen Mief zu befreien und gemäß demokratisch-nationalen Idealen von Grund auf neu zu gestalten. Diesem Paradigmenwechsel standen die Hultschiner verständnislos gegenüber und fühlten sich in ihrer katholischen Identität bedroht. Auf der anderen Seite sahen die Behörden weder einen Grund noch die Möglichkeit, mit einer so kleinen Gruppe eine behutsamere Umstellung vorzubereiten. Sowieso waren wichtigere Probleme zu lösen, um die erste Etappe auf dem Weg zu einem soliden Staatswesen zu überstehen. Und schließlich traf es ja zu, dass „das tschechische Schulwesen unter den jetzigen Verhältnissen das zuverlässigste und wichtigste Mittel für unsere Assimilierungs- oder besser Re-Assimilierungsanstrengungen in diesem wichtigen Grenzgebiet darstellt“, wie es Regierungskommissar Šrámek gegenüber dem Innenministerium unverblümt formulierte.
Die Hultschiner wehrten sich mit Protesten und Eingaben und ließen ihre Kinder in einigen Orten sogar in den Schulstreik treten, denn die Kinder müssten schon wegen der späteren Arbeitssuche in Deutschland Deutsch lernen. Dann erfanden die Hultschiner den „Privatunterricht“ – ein Wort, das noch heute im Ländchen geläufig ist. Ab 1922 erteilten zunächst drei, im Laufe der Jahre weitere Lehrer nach und nach in den meisten Ortschaften privaten Unterricht auf Deutsch, organisiert und finanziert vom Deutschen Kulturbund und den Eltern. Ergänzend meldeten viele Hultschiner ihre Kinder außerhalb des Ländchens, vor allem in Opava, in den dortigen deutschen Schulen zum Schulbesuch an. Während die Schulbehörden mit vielerlei Maßnahmen dagegen vorgingen, ersannen die Hultschiner neue Finten, zum Beispiel 1936 die Organisation eines deutschen „Nachhilfeunterrichts“.
Zu diesem Zeitpunkt aber war die allgemeine politische Krise bereits weit fortgeschritten. Der Schulkampf lenkte ebenso wie die wirtschaftliche Notlage und die dauernden Schikanen gegen die Arbeitssuche in Deutschland Wasser auf die Mühlen der äußersten Rechten. Von innen agitierte die Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP) und nach deren Verbot 1933 die Sudetendeutsche Partei (SdP) Henleins, die sich 1935 im Ländchen auch organisatorisch verankerte. Zudem gewann die irredentistische Propaganda von außen an Einfluss, wobei sich seit den frühen zwanziger Jahren der Reichsverband heimatliebender Hultschiner hervortat, der sich in Ratibor aus dem Zulauf der Optanten gebildet hatte. Bei den Parlamentswahlen von 1935 gewannen die deutschen Parteien fast drei Viertel aller abgegebenen Stimmen, wovon allein auf die SdP 85 Prozent entfielen. Die im Ländchen vormals starken Christsozialen waren zu einer Splitterpartei zusammengeschrumpft.
Vermeintliche Befreier
Kein Zweifel, die Hultschiner setzten keine Hoffnungen mehr in den neuen Staat. Des endlosen, von Schikanen begleiteten Tauziehens müde, erwarteten sie ihr Heil nun aus Deutschland. Die Vergangenheit als Teil Deutschlands, von Zumutungen unbehelligt in einer weit entlegenen Nische, erschien rückblickend als Verheißung wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs. Als sich die Krise im September 1938 zuspitzte bis hin zur Mobilisierung der Truppen, konnte die ČSR im Ländchen keinen Rückhalt finden. Viele Hultschiner flohen in Scharen über die Grenze nach Deutschland, um dort bis auf Weiteres Unterschlupf zu finden. Zahlreiche Männer entzogen sich auf diese Weise ihrer Wehrpflicht, und manche von ihnen reihten sich sogar in die von deutschem Boden aus operierenden sudetendeutschen Freikorps ein, die auf Weisung Hitlers durch Terroraktionen Unruhe stiften sollten. Der Welt sollte vor Augen geführt werden, dass die ČSR unfähig war, im Lande Ordnung zu wahren und die deutsche Minderheit zu schützen.
Am 8. Oktober 1938, eine gute Woche nach dem Münchner Abkommen, besetzte die Wehrmacht, begleitet von zahlreichen heimkehrenden Flüchtlingen, das Hultschiner Ländchen. Diesmal wurden die Besatzer freudig als die vermeintlichen „Befreier“ begrüßt. Hultschin und die anderen Orte waren festlich geschmückt, die Glocken läuteten und winkende Einwohner säumten die Straßen. Noch fröstelte es nur wenigen beim Anblick der vielen Hakenkreuze ringsum. Rasch folgten die automatische Einbürgerung ins Deutsche Reich, die Neubesetzung der Bürgermeisterämter meist durch lokale SdP-Genossen, die Wiedereingliederung in den Kreis Ratibor und damit die Einverleibung zurück ins „Altreich“ – keine Verschmelzung mit dem neu gebildeten Sudetengau – und vor allem machten sich überall die NSDAP und andere Nazi-Organisationen breit.
Dass Deutschland sich in einen totalitären Staat verwandelt hatte, der keine behaglichen Nischen für Minderheiten duldete, stellten die Hultschiner schon bald an der Sprachenpolitik fest: Das vertraute Mährisch wurde rücksichtslos aus dem öffentlichen Raum verbannt, Zuwiderhandlung gar mit Geld- oder 24-stündiger Haftstrafe belegt. In den Schulen waren viele Kinder überfordert, einem rein deutschen Unterricht zu folgen. Hinzu kamen der ständige Druck zu politischem Engagement und die öffentliche Geringschätzung alles Katholischen. So verflog die anfängliche Euphorie bald und machte einer herben Desillusionierung Platz. Natürlich fanden sich wie überall auch solche, die sich von den neuen Verhältnissen nach oben tragen ließen, Skrupel und hergebrachte Werte beiseite schiebend; die Gelegenheiten dazu waren zahlreich und wurden mit Kriegsbeginn noch zahlreicher. Der Krieg bedeutete aber vor allem die endgültige Zerstörung aller Illusionen.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ