„Wir betreiben harten Sport“
Das aus den USA stammende Roller Derby findet in Europa immer mehr Anhänger. 2012 gründete sich in Prag das erste Team in Tschechien. Ein Besuch beim Training der Frauen des „Prague City Roller Derby“
27. 5. 2015 - Text: Désirée LeiprechtText und Foto: Désirée Leiprecht
Auf einem Hügel des Stadtteils Prosek liegt die Sporthalle des Gymnasiums Litoměřická. Eine frisch geteerte Straße führt hier hinauf, links und rechts säumen Bäume und Sträucher den menschenleeren Weg und geben hin und wieder den Blick frei hinunter nach Libeň. Es ist Sonntag, 18 Uhr, in dem ruhigen und beschaulichen Stadtteil ist der Abend schon lange angebrochen. Lenka Křenková, zierlich, blond, mit orangem Rouge auf den markanten Wangenknochen, blickt auf ihre Uhr. „Los jetzt“, schreit sie plötzlich mit gesenktem Kopf und bläst kräftig in eine Trillerpfeife, deren schriller Ton von den Wänden hallt. Mitten in Prosek hat soeben das Training des ersten tschechischen Roller Derby Teams, des „Prague City Roller Derby“, begonnen.
Křenková, 24 Jahre alt und strategischer Coach der rund 25 Frauen, wird ihrem Team an diesem Abend viel abverlangen. Ausdauer und Strategie werden trainiert, auch ein Probespiel steht auf dem Programm – schließlich findet am Samstag ein wichtiges Duell gegen die Frankfurter „Bembel Town Girls“ statt und Křenková will so gut wie möglich darauf vorbereitet sein. „Es wird sehr spannend“, sagt sie und pfeift die nächste Sprinteinheit von einer Seite der Halle zur nächsten an. „In der Vergangenheit haben wir oft entweder gegen Teams gespielt, die viel stärker oder viel schwächer waren als wir. Da ist der Ausgang immer vorhersehbar. Dieses Mal wird es ein Kampf auf Augenhöhe.“ Wie die Pragerinnen (Rang 159) befindet sich das Frankfurter Team (Rang 177) im Mittelfeld des „European Roller Derby Rankings“, das jeden Monat die 300 besten europäischen Mannschaften auflistet. Spielentscheidend sei Ausdauer und vor allem die richtige Strategie, meint die Trainerin und unterbricht den Sprint mit einem Pfiff für einen Block Liegestütze.
Die Nerven entscheiden
Dass die Frauen jedoch auch Duelle mit vermeintlich klarer Rollenverteilung in spannende Begegnungen verwandeln können, haben sie dieses Jahr im Februar bewiesen. Bei einem „Bout“– so heißen die Matches im Roller Derby – gegen „Vienna Roller Derby“ zwang das Prager Team den österreichischen Konkurrenten mit 209:160 in die Knie. Wien, im europäischen Ranking derzeit auf Rang 121, galt im Vorfeld als klarer Favorit. Am Ende habe jedoch die Mannschaft mit den besseren Nerven gewonnen, erklärt Křenková stolz. „Letztlich geht es immer darum, wer auf dem Track, dem Spielfeld, ruhig bleibt und nicht überreagiert. Wien hat uns unterschätzt und deshalb den Kopf verloren.“ Was diesen Sieg dabei für die Trainerin zu ihrem persönlich größten macht: Das Wiener Team hatte das „Prague City Roller Derby“ in dessen Anfangszeit in ein Trainingslager eingeladen und ihm dort Wichtiges rund um die Sportart auf vier Rollen gezeigt. „Der Schüler hat also seinen Lehrer geschlagen“, lacht die junge Frau, die an der Karls-Universität Soziologie studiert.
Mittlerweile hat Křenková die Ausdauer-Einheit beendet und blickt auf die Frauen, die verschwitzt und mit roten Köpfen am Hallenrand sitzen. Während die einen noch mit geschlossenen Augen nach Atem ringen, greifen die ersten schon energisch nach ihren Rollschuhen – eine längere Verschnaufpause gibt es nicht. „Am besten fängt man mit dem Training auf Rollschuhen erst dann an, wenn der Körper schon richtig erschöpft ist. Nur so lernt man, Turniere mit mehreren Bouts durchzustehen“, erläutert Křenková ihre Methode und bläst schon wieder lautstark in ihre Pfeife. Da im September das erste Turnier der 2012 gegründeten Mannschaft in London ansteht, bleibt dem Team nicht mehr viel Zeit. Innerhalb weniger Sekunden steht auch die letzte Spielerin mit Mundschutz, Helm, Knie-, Hand- und Ellbogenschonern auf ihren Rollschuhen und ist bereit für den nächsten Block: das Strategietraining.
Gejammer oder Gestöhne hört man von niemandem – stattdessen wirken die Frauen im Alter zwischen 19 und 37 Jahren diszipliniert und hochkonzentriert. „Wer Roller Derby machen möchte, muss es wirklich mit aller Energie wollen. Man braucht die kämpferische Einstellung, an seine Grenzen zu gehen“, sagt Křenková energisch. Wie weit dieser Kampfgeist geht, macht die 34-jährige Spielerin Lulu Schneller deutlich, die aus Australien kommt und erst vor einem Jahr zum „Prague City Roller Derby“ gestoßen ist: „Wir machen alles selbst, organisieren die Spiele, stemmen zusammen das Budget. Wir alle opfern viel Freizeit für unsere Leidenschaft.“ Lachend fügt sie an: „Aber das ist es wert!“
Dass die Frauen alles in Eigenregie erledigen müssen, hängt nicht zuletzt mit ihrer besonderen Stellung in Tschechien zusammen: Während es in Deutschland ein Netzwerk aus insgesamt 46 Klubs gibt, entsprechende Fachgeschäfte existieren und seit diesem Jahr sogar die erste Derby-Bundesliga ausgetragen wird, sind die Pragerinnen das einzige aktive Team in ihrem Land. „Als wir mit dem Sport begonnen haben, war Tschechien eine Roller-Derby-Wüste. Wir mussten uns alles selbst beibringen“, so Křenková, die in den Niederlanden spielen lernte und so wertvolle Erfahrungen sammeln konnte. „Unser Wissen beziehen wir bis heute größtenteils aus dem Internet. Wir hoffen jedoch, dass sich unsere Situation in Zukunft verbessert.“ Erklärtes Ziel der Frauen ist es, Roller Derby in ihrer Heimat als ernstzunehmende Sportart zu etablieren und die Weltmeisterschaft, den „Roller Derby World Cup“ 2017, mit einem konkurrenzfähigen Nationalteam zu bestreiten. Dafür trainieren sie zwei- bis dreimal die Woche und versuchen, ihren Professionalisierungsgrad ständig zu steigern. Ein nächster Schritt ist dabei die Aufnahme in die „Women’s Flat Track Derby Association“, die internationale Roller-Derby-Vereinigung der Frauen.
Starke, freche Frauen
Dass es das Team ernst meint, merkt man spätestens, als sich die Spielerinnen im Strategieteil in hoher Geschwindigkeit über den Turnhallenboden schieben. Harte Stürze auf der rutschigen Oberfläche werden ohne Kommentar hingenommen, Spielzüge bis zur völligen Erschöpfung wiederholt. Was schon beim Zusehen anstrengend und schmerzhaft aussieht, bedeutet für das Team noch lange nicht das Ende des Trainings. Immer wieder erklärt Křenková verschiedene Strategien, pfeift, erklärt, pfeift und erklärt noch einmal. Auf der anderen Seite der Halle trainiert der 55-jährige Jiří Máčel, ehemaliger Speed-Skater und zuständig für die technischen Fertigkeiten des Teams, den Nachwuchs des Vereins. Auch Máčel steht dabei für die „Do-it-yourself“-Mentalität des Teams: Er ist der Vater einer Spielerin.
Der Himmel über Prosek ist schon tiefdunkel, als die Spielerinnen mehrere Turnbänke in die Mitte der Halle tragen. Müde lassen sie sich auf den Boden fallen und nehmen die schweißgetränkten Helme ab. Zum Vorschein kommen halb kahlrasierte Köpfe, asymmetrische Schnitte und bunte Haare – Roller Derby ist ein vor allem in der Punk-Szene populärer Sport. Starke, freche Frauen möchten Roller-Derby-Girls sein und gleichzeitig mit aufreizenden Outfits zeigen, dass sie sexy sind. So lautet zumindest das Klischee. Lenka Křenková hält nichts davon: „Ich ziehe mich normal an, trage keine Hotpants oder zerrissene Netzstrumpfhosen. Wir sind nicht heiße Hintern auf Rollschuhen – wir betreiben harten Sport.“ Das stimmt: Dieser Sport verlangt seinen Spielerinnen wirklich alles ab.
Erneut ertönt ein schriller Pfiff. Innerhalb weniger Sekunden stehen die Frauen wieder auf dem Parkett, als hätte das Training gerade erst begonnen. Während sich die ersten Bewohner von Prosek schon schlafen legen, startet in der Turnhalle mit dem Probespiel der dritte Teil des Abends. Eine weitere schweißtreibende halbe Stunde jagen die Frauen im Kreis, blocken, fallen und schreien. „Wir wollen Frankfurt unbedingt schlagen“, sagt Křenková, während sie auf ihre Uhr blickt. Man glaubt ihr jedes Wort.
WAS IST ROLLER DERBY?
Bereits in den dreißiger Jahren legte der amerikanische Sportpromoter Leo Seltzer den Grundstein für die Sportart Roller Derby. Anfangs noch als Paar-Rennen auf einer ovalen Bahn ausgetragen, treten heute jeweils zwei Teams zu je fünf Spielerinnen in sogenannten Bouts gegeneinander an. Pro Team gibt es dabei eine „Jammerin“, die versucht, durch Überrunden des gegnerischen Teams Punkte zu erzielen, und vier Blockerinnen. Ihre Aufgabe ist es, die gegnerische „Jammerin“ am Punktesammeln zu hindern und die eigene Spielerin zu unterstützen. Gespielt werden zweimal 30 Minuten, wobei jede Hälfte aus mehreren zweiminütigen Durchgängen, den „Jams“, besteht. Während die Sportart zu Beginn vor allem in den USA populär war, fand 2011 in Toronto die erste Weltmeisterschaft satt – unter anderem mit Teilnehmern aus Argentinien, England und Deutschland. Neben den größtenteils aus Amateuren bestehenden Mannschaften gibt es auch erste Profi-Teams wie die „Texas Outlaws Roller Derby“.
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