Keine Arbeiter in Bewegung
Streiken ist in Tschechien eher unpopulär – das liegt auch an der besonderen Stellung der Gewerkschaften
3. 6. 2015 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Foto: Kychot
Deutschland im Mai 2015: Züge stehen still, Briefe und Pakete werden nicht zugestellt. Aufgebrachte Eltern demonstrieren gegen einen mehrwöchigen Streik der Erzieher in Kindertagesstätten. Und das, obwohl in Deutschland im europäischen Vergleich eher selten die Arbeit niedergelegt wird. Aktuellen Zahlen des Europäischen Gewerkschaftsinstituts (ETUI) zufolge fielen in den vergangenen fünf Jahren in der Bundesrepublik nur zwölf Arbeitstage pro 1.000 Beschäftigte aus, in Frankreich waren es 171.
In der Tschechischen Republik hingegen herrscht weitgehend Ruhe in den Betrieben und auf den Straßen. Das Land wird von den europäischen Streikstatistiken noch nicht einmal erfasst – es gibt keine offiziellen Zahlen. Während die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in Deutschland allein im vorigen Jahr mehr als 200 Tarifkonflikte mit Arbeitsniederlegungen zählte, listet eine Studie des Ökonomen Martin Myant über die Geschichte der Gewerkschaften in Tschechien lediglich 18 Streiks in den Jahren 1990 bis 2010 auf. Die meisten dieser Ausstände dauerten nur wenige Stunden oder höchstens einen Tag. „In der letzten Dekade gab es gerade einmal zwei größere Streiks und Demonstrationen gegen die neoliberalen Reformen der rechts-konservativen Regierungen in den Jahren 2008 und 2011“, sagt Martin Polášek, Politologe an der Karls-Universität.
Dabei gäbe es auch hierzulande in vielen Branchen Grund zum Arbeitskampf. So hatte beispielsweise die Europäische Kommission erst Mitte Mai die niedrigen Löhne der Lehrer beanstandet, die zudem oft nur Teilzeitverträge erhalten.
„In den Betrieben herrscht sozialer Frieden“, sagt Vít Samek, stellvertretender Vorsitzender des Böhmisch-Mährischen Gewerkschaftsbundes (ČMKOS). „In den letzten Jahren fand kein einziger großer Streik statt. Das liegt an der weitverbreiteten Angst der Angestellten, ihre Stelle zu verlieren.“
ČMKOS ist der größte tschechische Gewerkschaftsbund und zählt eigenen Angaben zufolge derzeit 330.000 Mitglieder, die in 29 verschiedenen Gewerkschaften quer durch alle Branchen organisiert sind. Jährlich verliert die ČMKOS etwa zwei bis fünf Prozent ihrer Mitglieder, so Samek. Insgesamt gehören laut ETUI hierzulande zehn bis 17 Prozent der Angestellten einer Arbeitnehmervereinigung an. Auch wenn die Zahl der Mitglieder stetig abnimmt: Tschechien liegt damit in der EU im Mittelfeld, knapp hinter Deutschland – aber überraschenderweise weit vor Frankreich.
„Leider sind die Gewerkschaften nicht stark genug“, bedauert Radana Šimčíková, die seit 27 Jahren als Grundschullehrerin arbeitet und viel darüber erzählen kann, warum sie und ihre Kolleginnen durchaus Gründe hätten, gegen die gegenwärtigen Verhältnisse zu protestieren. „Ich liebe meine Arbeit und ich glaube, dass es meinen Kolleginnen genauso geht. Aber die Bezahlung ist alles andere als gut. Der Großteil meiner Kolleginnen ist finanziell von ihren Ehemännern abhängig.“ Streik sei eine unpopuläre Maßnahme, sagt Šimčíková: „Immer wenn öffentlich darüber diskutiert wurde, hieß es: Die haben doch zwei Monate Ferien, was wollen sie denn noch? Außerdem sind die meisten Lehrer Frauen. Leider herrscht in der Gesellschaft immer noch die Meinung vor, dass ein geringes Einkommen für Frauen in Ordnung ist.“ Die 51-Jährige wünscht sich mehr Solidarität in der Bevölkerung, auch über den eigenen Berufsstand hinaus, und stärkere Gewerkschaften, die es schaffen, ihre Mitglieder wirksam vor Einschüchterungsversuchen der Arbeitgeber zu schützen.
Spuren des Sozialismus
Die einstige Instrumentalisierung im tschechoslowakischen „Arbeiterstaat“ hat Spuren bei den Organisationen hinterlassen. Zur Zeit des Sozialismus waren alle Angestellten zwangsweise Teil einer Gewerkschaft, obwohl diese ihren wichtigsten Aufgaben nicht nachgehen konnte: die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber Arbeitnehmern und dem Staat zu vertreten, über Löhne zu verhandeln und kollektive Aktionen zu organisieren – wie beispielsweise einen Streik. Stattdessen dienten die Gewerkschaften dem Regime als verlängerter Arm in den Betrieben oder als Freizeitvereine, die Ausflüge und Grillabende für ihre Mitglieder veranstalteten. Diese blieben ihrer Vereinigung bis ins hohe Alter verbunden und zementierten damit deren Ruf als Rentnerclubs. Sechs von 81 Basisorganisationen der Glasarbeiter-Gewerkschaft hatten im Jahr 2008 überhaupt keine Mitglieder mehr, die noch aktiv im Berufsleben standen, konstatiert Myant in seiner Studie.
In der Zeit der revolutionären Umbrüche um 1989 trugen auch die in vielen Betrieben – aber ebenso von Studenten – gegründeten Streikkomitees zum Sturz des sozialistischen Systems bei. Diese Organisationen bildeten die Basis für die neuen tschechischen Gewerkschaften. Sie bemühten sich darum, schnellstmöglich die kommunistische Zentralisierung rückgängig zu machen und die Arbeitervertretungen in den einzelnen Betrieben zu stärken.
Größere Gewerkschaften wie in Deutschland, die eine ganze Branche vertreten und deren Belangen eine Stimme verleihen, gibt es zwar auch in Tschechien, sie sind jedoch wesentlich schwächer. So erschöpfen sich Verhandlungen oft in innerbetrieblichen Debatten. Ein starker Mittler zwischen Basis und Politik fehlt. Das sagt auch der Politologe Polášek: „Tarifverhandlungen finden vor allem in den Betrieben statt. Es ist aber wichtig zu beachten, dass verschiedene Instrumente, derer sich Gewerkschaften in solchen Verhandlungsprozessen bedienen können, auch auf dieser Ebene Anwendung finden. Und oft sind diese wirksamer als Streiks. Ein Beispiel sind die Streik-Drohungen, die oftmals in den Škoda-Werken ausgesprochen werden.“ Laut Polášek gibt es auch vereinzelt Proteste wie die Aktion „Danke, wir gehen“ im Gesundheitssektor 2011. Damals hatten rund 4.000 Ärzte aus Protest gegen niedrige Löhne mit ihrer Kündigung und der Abwanderung ins Ausland gedroht.
Fehlende Schlagkraft
Mit der sogenannten Tripartita, dem Rat der Wirtschafts- und Sozialabkommen, haben die Gewerkschaftsbünde seit 1990 ein festes Dialogforum mit Vertretern der Arbeitgeber und der Regierung. Dennoch fehlt es den Gewerkschaften an politischer Schlagkraft.
„Während des Sozialismus wurde die traditionelle Verbindung der Gewerkschaften zur Arbeiterbewegung aufgelöst“, nennt Myant einen Grund für die schwache Position der Arbeiterunionen im heutigen Tschechien. Gleichzeitig charakterisiert er sie als „fügsam“ gegenüber Staat und Parteien. Schlechte Öffentlichkeitsarbeit tue ihr Übriges. Die wenigen großen Streiks, darunter ein einwöchiger Ausstand der Eisenbahner im Jahr 1997, hätten viel negative Presse bekommen. Seitdem präsentieren sich die Gewerkschaften friedlich.
Auch Samek sieht derzeit keinen Anlass zu streiken, zum Beispiel für eine Erhöhung des nach wie vor niedrigen Mindestlohns, der in Tschechien 9.200 Kronen (rund 330 Euro) beträgt. Erst vor kurzem hatte ČMKOS eine Anhebung gefordert. Der Gewerkschafter sind zuversichtlich: „Die aktuelle Regierung plant eine Anhebung des Mindestlohns in den kommenden Jahren auf 40 Prozent des Durchschnittseinkommens. Im Moment diskutieren wir das in der Tripartita“, so Samek. Er ist zufrieden mit den Entwicklungen im Verhältnis zwischen den Arbeitnehmerunionen und der Regierung unter Sobotka. Mit den Mitte-Rechts-Kabinetten unter Mirek Topolánek und besonders unter Petr Nečas sei die gesellschaftliche Solidarität ausgehöhlt worden, die rechtliche Stellung der Gewerkschaften habe sich massiv verschlechtert. Seit die neue Koalition im Amt sei, würden sie wieder aktiver an Entscheidungen beteiligt.
Für die schwache Position der Gewerkschaften und die mangelnde Streikfreude der Tschechen hat Polášek noch eine andere Erklärung: „Der Einfluss des neoliberalen Diskures in den letzten Jahrzehnten und das Bild der Gewerkschaften als Teil des autoritären Regimes spielen eine große Rolle. Ganz natürlich ist diese Entwicklung allerdings nicht, sie steht unter dem Einfluss von Eliten in Politik und Medien.“ Gewerkschafter Samek findet einfachere Worte: „Tschechen verhandeln einfach lieber, ob auf individueller oder kollektiver Ebene. Streiken hat traditionell keinen guten Ruf in der Bevölkerung und es ist sehr schwer, diese Einstellung zu ändern.“
„Online-Medien sind Pioniere“
Kinderwunsch nicht nur zu Weihnachten