„Niemand zieht freiwillig in eine Wohnung, in der es Wanzen gibt“
Alena Zieglerová leitet vorübergehend die Agentur für soziale Integration
10. 6. 2015 - Text: Corinna AntonInterview: Corinna Anton; Foto: Aléna Zieglerová/Vláda ČR
Die tschechische Regierungsagentur für soziale Integration soll Kommunen helfen, die Bewohner ihrer Armenviertel in das gesellschaftliche Leben einzubeziehen. Ihre Mitarbeiter beraten derzeit Politiker und Organisationen in 26 Städten und Gemeinden, künftig sollen es mehr als doppelt so viele werden. In den vergangenen Wochen machte die Agentur allerdings aus einem anderen Grund Schlagzeilen: Nachdem das Ministerium für Menschenrechte den Chef der Agentur entlassen hatte, reichten mehr als 20 von 70 Mitarbeitern ihre Kündigung ein. Streitpunkt war der Umgang mit EU-Geldern, die für die Integration der Roma-Minderheit bestimmt sind. Die Mitarbeiter der Agentur hatten mehr Unabhängigkeit vom zuständigen Ministerium für Menschenrechte gefordert. Auch Alena Zieglerová, seit April kommissarische Leiterin, wird die Behörde demnächst verlassen.
Die Zahl der Armenviertel hat sich in den vergangenen neun Jahren verdoppelt. Hat die Agentur für soziale Eingliederung ihre Aufgabe nicht erfüllt?
Alena Zieglerová: Wir wirken nur dort, wo die Stadt oder Gemeinde unsere Hilfe anfordert und bereit ist, sich an der Lösung der Probleme zu beteiligen. Wir können uns nicht aussuchen, wo wir arbeiten, selbst wenn wir glauben, dass es irgendwo dringend nötig wäre. Die Orte, die nicht mit uns kooperieren, versuchen wir auf einem anderen Weg zu erreichen, zum Beispiel mit unseren Publikationen oder thematischen Veranstaltungen in allen Kreisen.
Sind sich die Kommunen denn bewusst, dass soziale Ausgrenzung ein Problem ist, um das sie sich kümmern müssen?
Zieglerová: Ich denke, dass dieses Bewusstsein wächst, auch dank der Aufklärungsarbeit der Agentur und vieler gemeinnütziger Organisationen sowie engagierter Bürgermeister. Immer weniger Gemeinden sind überrascht, dass einige oder sogar die Mehrheit ihrer Einwohner in Armut lebt. Sie entscheiden sich, Hilfsprogramme einzuführen, um gegen soziale Ausgrenzung anzukämpfen. Rein repressive und Kontrollmaßnahmen wie zum Beispiel Videoüberwachung haben sich übrigens als weniger wirksam erwiesen als Programme, die den Zugang zu Bildung und Beschäftigung fördern.
Was bedeutet „soziale Ausgrenzung“ konkret für einen Menschen oder eine Familie?
Zieglerová: Es fängt bei jedem anders an. Das kann eine Kündigung sein, eine Krankheit, der Verlust der Wohnung, Überschuldung, eine Abhängigkeit oder der Zerfall der Familie. All das kann dazu führen, dass sich der Zugang eines Menschen zu dem verschlechtert, was in unserer Gesellschaft als Standard betrachtet wird. Die Betroffenen wollen auch ihre Miete zahlen, sich um ihre Kinder kümmern, sparen – aber sie haben nicht die Möglichkeit. Niemand zieht freiwillig in eine Wohnung, in der es Wanzen gibt. Es ist ganz egal, ob jemand durch eigenes Verschulden in so eine Situation gerät, durch unglückliche Umstände oder ob er einfach hineingeboren wird. Wichtig ist, dass es ein Netz gibt, das denjenigen hilft, die sich selbst nicht helfen können.
Wie hilft die Agentur?
Zieglerová: Wo Experten der Agentur tätig werden, merken die Menschen nach einiger Zeit, dass es neue oder bessere soziale Dienste gibt, dass sich der Zugang zu höherer Bildung verbessert und neue Arbeitsmöglichkeiten entstehen. Umgesetzt werden diese Maßnahmen immer von örtlichen Trägern, zum Beispiel von Schulen, die Unterstützung für benachteiligte Kinder einführen, vom Arbeitsamt und gemeinnützigen Organisationen.
Können Sie bestätigen, dass Armut und soziale Ausgrenzung vor allem im Norden des Landes ein Problem ist?
Zieglerová: Es ist wahr, dass die regionalen Unterschiede groß sind. Jemand, der in der Region Vysočina oder in der fruchtbaren Gegend an der mittelböhmischen Elbe lebt, kann sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen, welche Probleme die von der Industrie geprägten nördlichen Teile Böhmens und Mährens haben. Man muss sich aber auch bewusst machen, dass es einen gewissen Egoismus der großen Städte gegenüber den kleineren in ihrer Umgebung gibt, ebenso der Kreisstädte gegenüber den Randregionen ihrer Kreise. Nicht nur die Ränder der Republik sind besonders von Armut betroffen, sondern auch die Grenzregionen zwischen den einzelnen Kreisen.
Die Agentur möchte ihrer Aufgabenbeschreibung zufolge „besondere Aufmerksamkeit“ auf die Roma richten, denn sie seien am meisten von sozialer Ausgrenzung betroffen. Welche Rolle spielen dabei die Vorurteile gegenüber der Minderheit?
Zieglerová: Es stimmt, dass in den sozialen Brennpunkten zu einem großen Teil Roma wohnen. Aber in Tschechien gibt es auch zahlreiche Roma, die ein normales Leben führen und nicht von sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Bei unserer Arbeit berücksichtigen wir, dass viele Menschen in den betroffenen Orten, wie überall im Land, Vorurteile gegenüber der Roma-Minderheit haben. Immer wieder hören wir, dass die Roma erst einmal selbst wollen müssen und andere absurde Forderungen. Wir betreiben vor allem Aufklärungsarbeit bei den örtlichen Entscheidungsträgern. Wir erklären, dass Menschen, die von sozialer Ausgrenzung betroffen sind, sich nicht aus eigener Kraft aus der Armut befreien können, dass es nötig ist, ihnen zu helfen, statt zu erwarten, dass sie versuchen anders zu leben – und dass es ganz egal ist, ob sie Roma sind oder nicht. Dass Roma bei uns häufiger von Armut betroffen sind, liegt nur daran, dass sie wegen der Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft oft schlechtere Ausgangsbedingungen haben. Das beginnt damit, wo sie geboren werden, auf welche Schule sie gehen, welche Arbeit sie finden, welche Wohnung – ein Kreislauf, der nur durchbrochen werden kann, wenn Städte und örtliche Institutionen bei ihren alltäglichen Entscheidungen wirksame Maßnahmen ergreifen, ohne Rücksicht darauf, wer wo und in welcher Familie geboren wurde.
Die Fragen stellte Corinna Anton.
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