Von der Kraft der Erzählungen

Von der Kraft der Erzählungen

Jiří Langers Werk „Die neun Tore“ liegt in einer neuen deutschen Übersetzung vor

24. 1. 2013 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: wikipedia/unk

 

Der tschechisch-jüdische Autor František Langer beschreibt, wie sein Bruder Jiří Mordechai 1913 nach einem mehrmonatigen Aufenthalt bei den chassidischen Juden im galizischen Städtchen Belz nach Prag zurückkehrt: „Ich war entsetzt, als ich den Bruder sah. Er stand mir  in einem schäbigen, kaftanähnlich geschnittenen schwarzen Rock gegenüber, der vom Kinn bis zum Boden reichte, und auf dem Kopf hatte er einen runden, breiten Hut aus schwarzem Plüsch, tief in den Nacken geschoben. Er stand gebeugt, Wangen und Kinn waren von einem rötlichen Bart überwachsen und vor den Ohren hing ihm das Haar in spiraligen Locken bis zu den Schultern.“ Die Familie war schockiert. Der Vater hatte es mit seinem Spirituosenhandel in den Königlichen Weinbergen zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Die jüdische Religion, die sein Vater als Dorfjude noch praktiziert hatte, war ihm als einem assimilierten Prager Juden fremd geworden. Er kleidete sich wie die nichtjüdischen Prager Bürger. Und nun musste er erleben, wie sein Sohn als Kaftan-Jude und mit Schläfenlocken wie ein Relikt aus der Zeit des jüdischen Ghettos durch Prag ging und zum Gespött der Leute wurde.

Hinter jedem Tor ein Geheimnis
Im Gegensatz zu Jiří fühlte sich Langers ältester Sohn František eng verbunden mit der tschechischen Kultur. Er gehörte als Schriftsteller und Dramaturg bald zur geistigen Elite der jungen Republik und wurde ein führender Vertreter des tschechischen Dramas in der Zwischenkriegszeit. Im Ersten Weltkrieg beweist er seine patriotische Gesinnung und wird Chefarzt des 1. Corps der Tschechoslowakischen Legion.

Jiří Langer besuchte wie sein Bruder das tschechische Gymnasium. Doch mit 15 Jahren bricht er die Schule ab, beginnt Hebräisch zu lernen und studiert intensiv religiöse jüdische Schriften. Mit 19 Jahren verlässt er Prag heimlich, um das Zentrum der chassidischen Bewegung in Belz kennenzulernen.

Insgesamt verbringt er vier Jahre unter den Chassidim („Fromme“) und wird ein Schüler des Belzer Wunderrabbis Rokeach. Als er 1918 nach Prag zurückkehrt, passt er sich zwar äußerlich dem westeuropäischen Lebensstil an, bleibt aber ein leidenschaftlicher Anhänger des Judentums. Zunächst hatte ihn die chassidische Bewegung fasziniert, die mit ihrer Lebensfreude, dem Tanz, dem Gesang und der Ekstase die einfachen Leute anzog. Unter der Anleitung eines Zaddik („Gerechten“), der als heiliger Lehrer verehrt wurde, und durch die Einübung in mystische Erfahrungen wurde jedem Frommen der Zugang zum Göttlichen eröffnet und nicht nur der Elite der Rabbiner mit ihren Gesetzesauslegungen und dogmatischen Lehren.

In seinen Schriften wirbt Jiří Langer unter den assimilierten Westjuden in Prag und bei den Nichtjuden für eine chassidisch-jüdische Tradition der Weisheit und Lebensfreude. Langer war einer der ganz wenigen westlichen Intellektuellen, der die Welt der Chassidim persönlich erlebt hatte. 1937 erscheint sein wichtigstes Werk „Die neun Tore. Geheimnisse der Chassidim“. Neun Tore durchwandert der Leser mit dem Erzähler und nach jedem Tor wird ein neues Geheimnis jüdischer Lebensweisheit aufgedeckt.

Erzählt wird von den Zaddikim, wobei nicht deren Lehren über Gott, die Schöpfung und die Auslegung der Gebote den Inhalt bilden, sondern deren praktische Frömmigkeit, ihre Bescheidenheit, ihr anspruchsloser Lebensstil, sowie ihre Tätigkeit als Wunderheiler. Für die Chassidim bildet das Erzählen die höchste Stufe der Erkenntnis, das mehr bewirken kann als Gebete oder das Befolgen der Gebote.

Das Erzählen gilt als eine heilige Handlung, die eine magische Wirkung auslösen kann. Wird zum Beispiel die Wundertat eines Heiligen erzählt, so kann durch das Erzählen das Wunder erneut seine Kraft entfalten. So erzählt ein Rabbi in einer chassidischen Geschichte von seinem Großvater, der alt und lahm war und aufgefordert wurde, von seinem berühmten Lehrer, dem Baalschem zu erzählen: „Und er erzählte, wie der heilige Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater stand und erzählte, und die Erzählung riss ihn so hin, dass er hüpfend und tanzend zeigen musste, wie der Meister es gemacht hatte. Von der Stunde an war er geheilt.“ Der Rabbi fügte hinzu: „So soll man Geschichten erzählen!“

Für interkulturelles Verstehen
Wichtig ist Jiří Langer, dass seine Geschichtensammlungen Witz und Humor ausstrahlen. Die Ironie macht auch vor dem Göttlichen nicht halt. So wird von einem Chassidim erzählt, dass er eine Klage gegen Gott eingereicht habe. Als das Gericht darüber beraten will, stellt er den Antrag, dass Gott gefälligst den Raum verlassen solle. Die jüdischen Menschen zeichnen sich für Langer dadurch aus, dass sie über sich selbst lachen können. Das befähigt sie, die eigene Person und die eigene Ethnie in ihrer Bedeutung zu relativieren. Für Langer ist die Kunst der humorvollen Relativierung ein Mittel gegen nationale Überheblichkeit. Jede Form von Nationalismus ist ihm fremd. Er wirbt für den Austausch zwischen den Kulturen, für ein gleichberechtigtes Nebeneinander der hebräischen, tschechischen und deutschen Kultur in Böhmen. Er selbst verkörpert die kulturelle Vielfalt, indem er die Sprachen so perfekt beherrscht, dass er nicht nur auf Tschechisch, sondern auch auf Deutsch schreibt und als wohl letzter tschechischer Autor hebräische Gedichte verfasst.

Es geht ihm um ein interkulturelles Verstehen, das fähig ist, auch das Fremde zu tolerieren. Damit wendet er sich auch gegen den wachsenden Antisemitismus. Schon Jan Neruda hatte 1869 das Judentum als das total Fremde angeprangert, das unvereinbar sei mit der europäischen Kultur. Er hatte Tschechen, Slawen und Europäer zu einer Vereinigung gegen die Juden aufgerufen. Jiří Langer würde sicher zu den Kritikern des von Samuel Huntington geprägten Slogans vom „Kampf der Kulturen („The clash of civilizations“) gehören, der nach dessen Überzeugung zwischen der westlichen Welt auf der einen und dem Islam und China auf der anderen Seite ausgetragen wird. Langer war überzeugt, dass eine Rückbesinnung auf die jüdische Religion helfen könnte, eine Koexistenz der verschiedenen Kulturen zu ermöglichen. Das Spätjudentum habe sich der hellenistischen Welt geöffnet und genauso arabische Traditionen in sich aufgenommen. So habe es eine Brücke geschlagen zwischen der europäischen und der orientalischen Kultur. Jüdisches Denken und jüdische Weisheit könnten – so Langer – dazu beitragen, den Nationalismus zu überwinden und die Bereitschaft fördern, den Orient bis hin nach Indien und China als eine Bereicherung für die Europäer zu entdecken.

Jiří Langer ist wenige Tage vor seinem 49. Geburtstag als Emigrant in Tel Aviv gestorben, an den Nachwirkungen von Monate langen Strapazen auf der Flucht von Prag im Jahr 1939 über Bratislava bis nach Israel. Er war ein letzter Zeuge der chassidisch-jüdischen Glaubenswelt in Galizien, bevor sie dem Holocaust zum Opfer fiel. Sein wichtigstes Werk „Die neun Tore“ liegt nun erstmals in einer vollständigen deutschen Übersetzung im Arco-Verlag vor.

Weiterführende Literatur:
Jiří Mordechai Langer: Die neun Tore. Geheimnisse der Chassidim. Aus dem Tschechi-schen von Kristina Kallert. Bibliothek der Böhmischen Länder (Band 9). Arco Verlag 2012. 360 Seiten. 28,00 Euro. ISBN 978-3-938375-40-2
Walter Koschmal: Der Dichternomade. Jiří Mordechai Langer – ein tschechisch-jüdischer Autor. Böhlau Verlag 2010. 408 Seiten. ISBN 978-3-412203-93-1