Im Zauberwald
Lenka Ovčáčková dreht am liebsten Filme über Grenzräume. Zuhause hat sie nicht einmal einen Fernseher
24. 6. 2015 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: Lenka Ovčáčková
Wenn Lenka Ovčáčková vom Böhmerwald spricht, dann strahlen ihre Augen. „Dieses riesige Stück grüner Raum. Die langen Wege, auf denen man tief in den Wald hineinlaufen kann, ohne jemandem zu begegnen. Die besondere Stimmung. Das ist schwer mit Worten zu beschreiben.“ Mit ihrer Stoffblume im Haar sieht Ovčáčková ein bisschen aus wie eine Elfe, die aus dem Wald gekommen ist. Sie ist zart, fast zerbrechlich, lacht viel. Lebensfreude und Staunen leuchten in ihrem Gesicht. Der kleine Tisch, an dem wir sitzen, wirkt im Vergleich zu ihr wie ein Koloss.
Vor kurzem hat die 38-Jährige ihren zweisprachigen Dokumentarfilm „Tiefe Kontraste – Hluboké kontrasty“ im bayerischen Schönsee vorgestellt. Es ist ein Film über Geschichte, Natur und Menschen des Böhmerwaldes. Vor allem aber ist es ein Film über Grenzen – die politischen Grenzen und die Grenzen im Inneren jedes Einzelnen: „Dieses Spüren, weiter kann ich nicht gehen, das unseren Umgang miteinander bestimmt“, erklärt Ovčáčková.
Mehr als 35 Tschechen, Deutsche und Österreicher hat sie für ihren Film interviewt. Zu Wort kommen Menschen, die ihr ganzes Leben im Böhmerwald verbracht haben, Vertriebene und junge Leute, die vor noch nicht allzu langer Zeit in das Grenzgebiet gezogen sind. Obwohl die Geschichte im Mittelpunkt der Dokumentation steht, geht es der Regisseurin vorrangig nicht um die Vergangenheit. Ovčáčková will zeigen, was diese Menschen gemeinsam haben und zusammen erschaffen können. „Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem man das Alte überwinden kann. Wir sollten in die Zukunft schauen und sehen, was in diesem gemeinsamen Raum alles entstehen kann.“
Zum Film kam Ovčáčková zufällig. Oder durch Schicksal, wie sie sagt, denn so richtig könne man das nicht wissen. „Am Anfang denkt man, es ist Zufall, später sieht man dann, dass das Steinchen genau in das Mosaik des eigenen Lebens gepasst hat.“ Als sie vor zehn Jahren an einer Sommerschule für Philosophie teilnahm, lernte sie den Dokumentarfilmer Tomáš Škrdlant kennen. Er suchte eine Person, die für ihn ins Deutsche übersetzte. Ovčáčková sprang ein, führte Interviews und schrieb mit am Skript. Dabei schaute sie ihm über die Schulter und lernte, wie man dreht. Seitdem ist der Film ihre große Leidenschaft, obwohl sie zuhause noch nicht einmal einen Fernseher hat.
Zwei Wesen
Ihren ersten Streifen brachte Ovčáčková im Jahr 2005 heraus, ein Beitrag über ihre Heimat, die Weißen Karpaten an der Grenze zwischen Tschechien und der Slowakei. Das Thema Grenze hat sie schon immer fasziniert. „Grenze, das bedeutet für mich zwei Wesen, die doch eins sind. Etwas wird getrennt, trotzdem bestehen so viele Gemeinsamkeiten. Ich will zeigen, dass es in gewisser Hinsicht keine Grenzen gibt.“
Ihre Filme dreht Ovčáčková allein – von der Kamera über den Ton bis zum Schnitt und den Untertiteln. Bevor ein Film fertig ist, darf ihn niemand sehen. „Weil ich sonst beeinflusst würde. Ich bin sehr eigen und versuche, jedem Film meine Linie zu verleihen.“ An „Tiefe Kontraste“ hat sie insgesamt ein Jahr gearbeitet. Zeitaufwendig sei vor allem die penible Suche nach passenden Zitaten für die einzelnen Filmsequenzen gewesen. Aussagen und Landschaftsaufnahmen ergänzte Ovčáčková durch Verse aus den Werken bekannter Schriftsteller, die vom Böhmerwald geprägt wurden, wie Johannes Urzidil, Adalbert Stifter oder Karel Klostermann.
Etwa 50 Stunden Rohmaterial habe sie an die hundert Mal angeschaut, „fast bis zum Durchdrehen, damit wirklich keine Fehler drin sind“, wie sie sagt. Am Ende hat sie sich – wie bisher jedes Mal – geschworen, keinen Film mehr zu machen. Inzwischen denkt sie schon wieder an ihr nächstes Projekt, einen wissenschaftlichen Streifen über den in Böhmen tätigen Unternehmer und Philosophen Georg Franz August von Buquoy.
Ovčáčková spricht schnell. Als hätte Sie Angst, die Zeit könne ihre Gedanken einholen. Den Faden verliert sie trotzdem hin und wieder. Dann lacht sie und blickt verschmitzt aus ihren brauen Augen. Wie eine Elfe scheint sie jeden Moment verschwinden zu können, zwischen den Tischen im Café.
Das Andere wahrnehmen
Seit fünf Jahren verbringt sie mit ihrem Mann und ihrer achtjährigen Tochter den Sommer im Böhmerwald – in der Sommerfrische, wie sie es nennt. Am liebsten möchte Ovčáčková dauerhaft dort wohnen. In dieser Landschaft, in der sie eine andere Kraft spüre und die Gedanken auf eine andere Weise laufen lassen könne. „Auch die Uhren gehen dort irgendwie anders.“
Sich selbst bezeichnet sie als Weltbürgerin, die überall zuhause sein könne, wo sie sich verwurzelt fühlt. Dabei rutschen ihr hin und wieder ein paar Worte Wienerisch heraus. Mit ihrem Mann, einem Österreicher, hat sie mehrere Jahre in der Hauptstadt gelebt. Es falle ihr schwer, sich mit einem Raum zu identifizieren. „Ich nehme nicht wahr, ob ich in Tschechien, Österreich oder Deutschland bin und auch nicht, ob ich Deutsch oder Tschechisch spreche. Für mich verschmilzt das.“
Acht Filme hat Ovčáčková bisher gedreht. Darin geht es ihr stets um das Menschliche, das uns allen gemeinsam ist, eingebettet in Geschichte und Natur. Immer wieder kreist sie um „Grenzen“, die für sie eine metaphysische Komponente haben. „Grenzen bedeuten, die Möglichkeit zu haben, sie überschreiten zu können und das Andere wahrzunehmen. Sich davon berreichern und beeinflussen zu lassen und es auf eine ganz eigene Weise zu verarbeiten. Dadurch kann etwas Neues entstehen.“
Es ist ein Uhr, zwei Stunden sind vergangen. Ovčáčková sagt halb überrascht, halb erschrocken, dass sie jetzt mit ihrer Tochter verabredet sei. Beim Abschied dreht sie sich noch einmal um, lacht und fliegt davon.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?