Stonehenge in Mähren
Tausende Jahre alte Fundamente liefern neue Hinweise auf die astronomischen Kenntnisse unserer Vorfahren. Für den Ausbau einer Schnellstraße wurden sie wieder zugeschüttet
16. 7. 2015 - Text: Respekt, Foto: Matěj Stránský
Archäologen haben in der mährischen Region Haná einen majestätischen vorzeitlichen Tempel entdeckt. Er diente wahrscheinlich einst dazu, die Zeit zu bestimmen, Verdunkelungen am Himmel zu beobachten oder rituelle Bestattungen durchzuführen. Aussehen, Alter und Zweck der Anlage erinnern an das legendäre Stonehenge in England; ihre Fundamente wurden beim Bau einer Schnellstraßenausfahrt bei Brodek u Prostějova freigelegt. Um den geheimnisvollen Fund zu bestaunen, kamen Wissenschaftler aus ganz Europa. Außer den Experten hat das „Stonehenge von Haná“ jedoch niemand gesehen – und niemand wird mehr einen Blick darauf werfen können.
Am Anfang der Entdeckung steht der Bau der neuen Auffahrt zur Landstraße R46, die den Bewohnern von Brodek die Reise nach Brünn erleichtern soll. Das Denkmalgesetz schreibt es vor, Archäologen in solche Pläne einzubeziehen. Dem kamen die Bauherren in Brodek nach und stellten die Arbeiten für fünf Wochen ein, damit die Wissenschaftler Ausgrabungen vornehmen konnten. Als jedoch Mitte April die Bulldozer anrückten, um die Erde beiseite zu schieben, kamen die Forscher aus dem Staunen nicht heraus: Im braunen Lehm verbargen sich 20 kreisrunde Vertiefungen, jede mehr als einen Meter breit, und daneben vier weitere, viel größere und eckige Gruben. All das war offenbar umgeben von einem ringförmigen Wall – und machte zu Beginn überhaupt keinen Sinn.
Etwas klarer wurde die Sache, als die Archäologen die Bagger abstellten, um sich mit Spachteln an die Arbeit zu machen – immer wieder hörte man plötzlich Rufe der Begeisterung. In der Erde lagen Schmuckstücke, dutzende Keramikgefäße, Perlen aus Bernstein und steinerne Handgelenkschoner für Bogenschützen sowie eine Sammlung von Steinen zum Schmieden von Metall. Mit jeder Entdeckung waren die Wissenschaftler überzeugter, dass es sich um Gegenstände aus der Jungsteinzeit handelt, die fast 5.000 Jahre alt sind. Doch wozu diente die ganze Anlage?
Auffällig war ihre genaue Ausrichtung von Ost nach West; am Bodenprofil der runden Vertiefungen erkannten die Experten, dass darin einst gewaltige Säulen aus Holz verankert waren und sie sahen, dass die Gestalt der eckigen Gruben typisch für Gräber ist. Darin fanden sich zwar verschiedene Schätze – allerdings keine menschlichen Gebeine. Der Leiter der Untersuchung Pavel Fojtík stand gerade bis zur Hüfte in der Erde, als ihm der Zusammenhang mit dem klar wurde, was er jahrelang in Fachbüchern gelesen und bei Reisen zu archäologischen Fundstätten gesehen hatte: „Auf einmal merkte ich, dass ich bis zum Gürtel auf den Fundamenten eines völlig einzigartigen Heiligtums stehe“, sagt der Archäologie aus Prostějov noch heute aufgeregt.
Des Rätsels Lösung war für Fojtík die Zahl derjenigen runden Vertiefungen, die in zwei parallel zueinander verlaufenden Reihen angeordnet waren: Zusammen waren es 18. „Auf einem Zeitabschnitt von 18 Jahren basiert der Zyklus der Sonnenfinsternisse, den wir Saroszyklus nennen“, erklärt der Wissenschaftler. Seine Aufregung war deshalb besonders groß, weil mit genau diesem Zyklus auch die Schöpfer des legendären Stonehenge gerechnet hatten. Zudem entstand die Anlage bei Brodek etwa zur selben Zeit wie die berühmten britischen Kreise und diente laut Fojtík wohl ebenfalls dazu, die Bewegungen der Himmelskörper aufzuzeichnen (und damit die Zeit zu bestimmen) sowie als Platz für Versammlungen und Zeremonien. Die Gräber hatten offenbar nur symbolischen Charakter. Möglicherweise wurde darin zum Beispiel die verdunkelte – „gestorbene“ – Sonne beerdigt oder der Mond.
Einmalig in Mitteleuropa
Es handelt sich nicht um die ersten vorgeschichtlichen Heiligtümer, die in Mähren entdeckt wurden; die bisherigen Funde aus der Steinzeit waren jedoch wesentlich einfacherer Bauart – darunter kreisförmige Anlagen, deren Eingänge sich ebenfalls an der Ost- und Westseite befanden, die aber keine komplizierten inneren Strukturen in Verbindung mit Astronomie und Astrologie aufwiesen. Ähnlich schlichte Bauwerke wurden bisher in ganz Mitteleuropa gefunden; komplexere Anlagen, die fortgeschrittenes geometrisches und astronomisches Denken voraussetzen, sind aber nur aus England, Frankreich und Spanien bekannt. „Jetzt haben wir den Beweis dafür, dass sich die Kulturen, die Stonehenge und ähnliche Formationen in Westeuropa geschaffen haben, zur selben Zeit auch bis nach Mitteleuropa ausgebreitet hatten“, sagt Michal Přichystal vom Institut für archäologische Denkmalpflege in Brünn, der die Forschungen in Brodek beaufsichtigte.
Unter Wissenschaftlern verbreitete sich die Nachricht von der Entdeckung schnell. Dutzende Experten machten sich auf den Weg nach Brodek, darunter zum Beispiel der Archäologe der Pariser Universität Sorbonne Clément Nicolas. „Das ist für die Wissenschaft eine bahnbrechende Entdeckung von gesamteuropäischer Bedeutung“, erklärt Nicolas. „Sie bestätigt, dass die Menschen in Mitteleuropa zu dieser Zeit über fortgeschrittene geometrische und astronomische Kenntnisse verfügten.“
Ende Mai hatten die Archäologen alle Gruben eingehend untersucht, die Fundstelle dokumentiert und die Objekte ins Labor geschickt. Die Erde über den Gruben schloss sich wieder, im wahrsten Sinne des Wortes. (…) Wo die einmaligen Funde liegen, lassen nur noch zwei bisher nicht wieder zugeschüttete Löcher erahnen, die jenseits der künftigen Auffahrt liegen.
Unter dem Asphalt
„Wenn ich mir vorstelle, dass man den Tempel vielleicht rekonstruieren, auch die Säulen wieder aufbauen und daraus das erste Stonehenge in Mitteleuropa machen könnte, kocht mir das Blut in den Adern“, sagt Radek Rozmánek, Bürgermeister von Brodek u Prostějova. Auch er hat erst von der Bedeutung der Funde erfahren, als sie bereits wieder unter der Erde waren. „Das ärgert mich. Touristen hätten kommen können, die Gemeinde hätte etwas daran verdient“, so der Bürgermeister. „Aber wir hatten keine Chance, den Bau der Straße einzustellen.“
Einen Baustopp können in solchen Fällen nur die Archäologen erreichen. In Brodek haben sie sich darum aber nicht bemüht. „Der Wert der Entdeckung liegt vor allem in den Informationen, die wir daraus gewonnen haben“, sagt der Brünner Archäologe Michal Přichysta. Nachdem die Funde abgeholt worden waren, verblieben am Ort nämlich nur ein paar leere Löcher. „Wir hätten zumindest einige Mauern finden müssen, bei deren Anblick auch Laien begriffen hätten, was hier einmal stand. Den Erhalt der bloßen Gruben hätten wir vor Gericht nicht durchbekommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass das in den vergangenen Jahren in einem Fall gelungen wäre“, so der Forscher. Ein solcher Prozess ist aufwendig: Die Archäologen reichen einen Antrag ein, den das Kulturministerium beurteilt. Wenn es ein Bauverbot ausspricht, geht der Fall meist vor Gericht, weil kaum ein Investor mitten in den Bauarbeiten nach neuen Lösungen suchen und die bürokratischen Verfahren erneut durchlaufen will. Außerdem erlegen die Gerichte dem Staat meist auf, den Investoren eine finanzielle Entschädigung zu zahlen.
Dass es auch im Fall Brodek Auseinandersetzungen gegeben hätte, deutet Nina Ledvinová an, Sprecherin der Tschechischen Autobahndirektion, die hinter den Bauplänen steht: „Die Auffahrt zu verlegen hätte nach unseren Berechnungen bedeutet, dass sich der Zeitplan um fünf bis zehn Jahre verschiebt und Investitionen in Höhe von 65 Millionen Kronen verschwendet worden wären.“
Gängige Praxis
Die tschechische Praxis unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der in anderen Ländern. „Auch in Frankreich werden Bauvorhaben nur gestoppt, wenn Mauern oder zum Beispiel Höhlenmalereien gefunden werden“, bestätigt Nicolas. „Brodek ist eine außergewöhnliche Entdeckung, aber letztendlich gibt es dort heute nur Gruben und Löcher, nichts Monumentales, noch dazu direkt neben einer zweispurigen Landstraße“, so der Wissenschaftler von der Sorbonne. Auch seiner Meinung nach liegt der Wert der Entdeckung vor allem in der Erkenntnis, dass auch in Mähren die Menschen bereits vor 5.000 Jahren kulturell mit Westeuropa verbunden waren.
Zudem hätte man den Experten zufolge den Tempel nur schwer direkt auf den ursprünglichen Fundamenten wieder aufbauen können. In den Gruben steckten einst Pfähle; nachdem das Holz verwest war, fiel Lehm hinein. Als die Archäologen die Gruben nun mit Schaufeln aushoben, begannen die Wände einzusacken. „Direkt auf diesen Fundamenten könnte man nicht bauen“, sagt Fojtík. „Wer weiß, was Archäologen aus ihren Wänden einmal alles herauslesen können, wenn die technischen Möglichkeiten sich noch weiterentwickelt haben.“
In Brodek sind unterdessen auch viele froh, dass die Arbeiten weitergehen – selbst wenn dafür die kostbare Entdeckung wieder zugeschüttet wurde. „Bekannte haben mir erzählt, dass hier etwas gefunden wurde, aber was genau weiß ich nicht“, sagt Nikola Burešová, eine junge Mutter, die gerade über den Dorfplatz vom Einkaufen nach Hause geht. „Mich interessieren diese Ausgrabungen nicht besonders“, gesteht sie schulterzuckend. „Ich bin froh, dass man bald schneller fahren kann.“
Alle Funde und Untersuchungsergebnisse bearbeitet nun Fojtíks Team im Labor und versucht daraus ein 3D-Modell zu erstellen, damit das Heiligtum zumindest virtuell rekonstruiert wird. Es ist auch nicht auszuschließen, dass in der Umgebung von Brodek noch ähnliche Schätze im Erdreich verborgen sind. „In der Umgebung von Stonehenge gibt es eine Reihe weiterer steinerner Kalender und Heiligtümer; vielleicht erwarten uns auch hier weitere Entdeckungen“, sagt Fojtík. Man plane weitere Untersuchungen in der Gegend, so der Archäologe.
Der Text erschien zuerst in der Wochenzeitschrift „Respekt“ Nr. 27-28/2015. Autor: Lucie Kavanová, Übersetzung: Corinna Anton
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