Flucht ins Protektorat
Hunderttausende Kinder wurden während des Zweiten Weltkriegs aus deutschen Städten evakuiert. Viele von ihnen fanden Schutz in Böhmen und Mähren
10. 9. 2015 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Foto: Dagmar Tysiak/privat
Im Mai 1940 begannen die Luftangriffe der Alliierten auf das Rhein-Ruhr-Gebiet. Auch auf Duisburg, Dagmar Tysiaks Heimatstadt, fielen Bomben. Ein langer Ton der Sirenen signalisierte einen Voralarm. Er warnte davor, dass etwas im Anflug war. Drehten die Flugzeuge ab, blieb es dabei. Folgte eine Wiederholung von drei lauten Huptönen, schnappte sich Dagmars Mutter ihre fertig gepackte Tasche und lief mit den beiden Kindern zum nächsten Luftschutzbunker. Anfangs verbrachten sie dort nur ein paar Stunden, später im Krieg oft ganze Nächte. Irgendwann beschloss die Mutter, jeden Abend in den Bunker zu gehen, um die Kinder nicht zu später Stunde wecken zu müssen. So erzählt es die mittlerweile 85-jährige Tochter heute ihren Enkeln.
1942 bestieg die damals Zwölfjährige mit ihren Klassenkameradinnen einen Zug, mit dem sie den Bomben entfliehen sollte. Es ging Richtung Osten, in den böhmischen Kurort Poděbrady (Podiebrad), knapp 60 Kilometer östlich von Prag. „Unsere Eltern hatten dabei ganz wenig zu sagen“, erklärt die Rentnerin, die heute wieder in Duisburg lebt. „Die Kinder gehörten ja praktisch dem Dritten Reich. Für Hitler waren sie die Zukunft.“ Um die heranwachsende Generation in Sicherheit zu bringen, lief ab 1940 die „Erweiterte Kinderlandverschickung“ an. Schüler und Mütter mit Kleinkindern aus West- und Nordwestdeutschland wurden in weniger gefährdete ländliche Gebiete gebracht.
Kaum bekannt ist: Viele von ihnen fanden Zuflucht im „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“. Über 400 Lager entstanden unter der Leitung von Funktionären der Hitlerjugend. Die Kriterien für die Orte waren klar definiert: Es sollten kleinere Städte sein, mit Anbindung an die Bahn und einer guten Infrastruktur. Kurorte waren bestens geeignet, sie hatten meist eigene Krankenhäuser, ebenso wie Hotels, die oft genutzt wurden, um die großen Gruppen unterzubringen. „Es gibt keine Statistik, die zeigt, wie viele Kinder genau ins Protektorat kamen“, sagt Radka Šustrová vom Prager Masaryk-Institut und dem Archiv der tschechischen Akademie der Wissenschaften, die eine Studie zum Thema verfasst hat. Aber Mitte Juli 1941 zum Beispiel seien in Böhmen und Mähren 20.000 Kinder untergebracht worden, mehr als in allen anderen aufnehmenden Gebieten. Außerdem hatte man im „Protektorat“ mit 25.000 Plätzen die größte Kapazität ausgewiesen.
Die Kinderlandverschickung war „zugleich humanitäre Aktion und Maßnahme zur Indoktrination eines totalitären Staates“, wie Gerhard Kock in seiner 1997 erschienen Monographie schreibt.
Strenges Regime
Getrennt von ihren Eltern waren die Kinder im Alter von sechs bis 14 Jahren in den Heimen einem strengen Regime unterworfen. „Wir waren zu viert auf einem Zimmer, jeweils zwei Betten übereinander“, erinnert sich Dagmar Tysiak. „Wir frühstückten morgens alle zusammen, danach gab die Lagerleiterin den Tagesspruch der Partei aus. Und dann gingen wir zur Schule, immer schön aufgereiht, alle in Uniform. Nachmittags hatten wir auch keine freien Stunden. Wir machten Schularbeiten, später hatten wir Sport oder auch mal Spiel, aber alles immer gemeinschaftlich. Man war nie alleine.“ Bald bekam sie Heimweh. Zugeben konnte sie das aber nicht. „Ein deutsches Mädchen weint nicht“, habe es dann geheißen, sagt Tysiak. Sie weinte heimlich, unter der Bettdecke.
Untergebracht waren die Kinder oft in gehobenen Hotels, so auch Dagmar und ihre Mitschülerinnen. „Sehr schön war es da, nur ein paar Schritte weg von der Elbe.“ Auch die Umgebung habe ihr gefallen. Zu Tschechen hatten die Kinder damals kaum Kontakt; außer der Putzfrau und dem Koch im Hotel seien nur Deutsche um sie gewesen, erzählt die Rheinländerin. An ein Zusammentreffen erinnert sie sich aber: „Als wir einmal am Marschieren waren – wir waren ja immer mit der ganzen Klasse unterwegs, hintereinander aufgestellt, deutsche Lieder singend – kam eine alte Frau am Stock und wollte über die Straße. Da hat sie uns mit ihrem Stock geschlagen und gerufen: ,Deutsches Pack, auf die Seite!‘“
Heute fragt sich Dagmar Tysiak manchmal, wie sich die Tschechen in Poděbrady und im mährischen Kurort Luhačovice (Bad Luhatschowitz), wo sie auch einige Monate verbrachte, damals gefühlt haben. „Unter der deutschen Besatzung waren das Menschen zweiter Klasse. Man hat ihnen ja viel weggenommen. Zum Beispiel das Hotel, in dem wir wohnten, und damit vielleicht auch die Lebensgrundlage. Das muss ihnen alles sehr wehgetan haben.“ Historikerin Šustrová wählt zurückhaltendere Worte. Sie spricht von Vermietung. „Im Protektorat sind viele Fälle bekannt, in denen Deutsche sowie Tschechen ihr Eigentum zur Verfügung stellten. Ob das alles wirklich freiwillig war, ist natürlich eine offene Frage.“ Sie weist darauf hin, dass die tschechische Bevölkerung an Errichtung und Betrieb der Heime beteiligt war und dass außer den Arbeitern, die Hilfstätigkeiten ausübten, besonders Handwerker und die Baubranche von der Kinderlandverschickung profitierten. Im Fall von Poděbrady sei das nicht anders gewesen. „An Aufträgen herrschte großes Interesse. Nicht nur die zu dieser Zeit gesunkene Nachfrage spielte eine Rolle, sondern sicher auch die Tatsache, dass Handwerker, die für die Kinderlandverschickung tätig waren, vom Arbeitseinsatz im Reich befreit waren.“
„Praktisch willenlos“
Die Kinder unternahmen auch Ausflüge. Dagmar Tysiak erinnert sich an eine Reise nach Prag. Die Mädchen wohnten im YMCA-Palast in der Neustadt, es gab Stadtführungen, Museumsbesuche, eine Schifffahrt auf der Moldau. „Das war wirklich ein Erlebnis“, sagt die Deutsche, die Prag und Tschechien später nie wieder besucht hat. Dennoch sind die Gedanken an diese Zeit für sie eher schmerzhaft. Sie litt unter dem Anpassungsdruck und der Trennung von der Familie. „Alles war vorprogrammiert und die Lagerleiterin und ihre Stellvertreterin waren immer dabei. Sie dachten und handelten für uns. Wir waren praktisch willenlos, Wünsche durfte man keine haben. Wir hatten zu gehorchen. Und wir haben auch gehorcht. Uns blieb ja nichts anderes übrig.“
Die Auflösung der Lager in Böhmen und Mähren im Jahr 1945 verlief „hektisch“, wie Šustrová sagt. Noch im Frühling fuhren viele Kinder in Richtung Bayern. Zeitzeugen, die das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln für sein Projekt „Jugend in Deutschland 1918–1945“ interviewte, berichten von chaotischen Zuständen und beschwerlichen mehrwöchigen Reisen zurück in die Heimat. Diese Strapazen blieben Dagmar Tysiak erspart. Als der Vater 1943 für einige Tage Sonderurlaub von der Front aus Norditalien nach Hause kam, durfte auch Dagmar nach Duisburg reisen. Noch am Bahnhof sagte sie zu ihrer Mutter, dass sie nicht mehr zurück wolle. Obwohl ihre Sachen im Lager in Luhačovice geblieben waren, respektierte die Familie ihren Wunsch. Einige Wochen verbrachte Dagmar bei einer alleinstehenden Frau in Ellwangen an der Jagst, wo auch ihr Bruder eine Gastfamilie gefunden hatte. Danach fuhren sie mit der Mutter zu Verwandten nach Thüringen, wo sie bis Kriegsende zusammen blieben.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ