Geistliches mit Gänsehautmomenten
Im Philharmonischen Kinderchor Dresden lernen Jugendliche, wie sie mit ihrem inneren Instrument umgehen. Ende September treten sie beim Festival „Lípa Musica“ in Nordböhmen auf
16. 9. 2015 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: Marko Kubitz
Den richtigen Ton zu treffen, das sei am schwierigsten. „Wenn man einen Ton allein am Klavier nachsingt, kann man den Abstand zwischen zwei Halbtönen ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger genau treffen. Wenn das viele im Chor machen, also auch nur ein kleines bisschen danebenliegen, dann klingt das ziemlich schief“, sagt Lina (17). Gemeinsam mit Linda (18) und Josephine (16) singt sie seit über neun Jahren im Philharmonischen Kinderchor Dresden. Am schönsten sei es, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in der alle ihren Beitrag zum Erfolg des Ganzen leisten, sind sich die drei einig. „Es reicht eben nicht, wenn einer gut ist, alle müssen an einem Strang ziehen und das macht Spaß“, sagt Linda.
Der Dresdner Philharmonische Kinderchor wurde 1967 von Kurt Masur gegründet; seitdem spielt er im musikalischen Leben der sächsichen Stadt eine wichtige Rolle. Das Vokalensemble hat bereits viele Preise bei Wettbewerben im In- und Ausland gewonnen und gastiert regelmäßig in anderen Ländern. Die nächste große Reise geht nach Japan, zuvor jedoch fahren die Musiker ins nordböhmische Kamenický Šenov (Steinschönau), wo der Chor beim internationalen Klassikfestival „Lípa Musica“ auftritt.
Derzeit singen etwa 130 bis 140 Kinder im Chor; 60 von ihnen stehen bei Konzerten auf der Bühne. Mitmachen könne jedes Kind, sofern es genügend Freude am Singen mitbringe, sagt Dirigent Gunter Berger. Seit knapp drei Jahren leitet er den Chor. „Beim Vorsingen schauen wir, ob die Kinder eine natürlich gut geführte Stimme mitbringen und – je nach Alter – ein Gespür für Melodie und Rhythmus. Wenn das hinhaut, dann können sie in den Chor eintreten und werden allmählich ausgebildet.“
Gewisses Quäntchen
Zunächst kommt der musikalische Nachwuchs in eine „Vokale Grundstufe“, in der er mit seiner eigenen Stimme, seinem Körper und verschiedenen Instrumenten vertraut gemacht wird. Später folgen Musiktheorie, Rhythmus, Tanz und Stimmbildung, bis die Kinder mit etwa neun Jahren im Chor mitsingen. Während ihrer Gesangsausbildung lernen sie, die eigene Stimme zu pflegen. Zum Beispiel nicht herumzuschreien, Kälte zu meiden und vor Auftritten die Stimme zu schonen. „Es wäre schön, wenn sie das machen, aber erwarten kann man es von Kindern nicht“, sagt Berger. Deshalb gibt es auch keine Vorschriften und keine Moralpredigten über gesunde Lebensweise, wie Lina, Linda und Josephine bestätigen. Immerhin, die drei essen vor der Probe keine Schokolade – weil das die Stimmbänder verschleimt, wie sie erklären. „Schokolade gibt es erst danach“, kichern sie.
Warum Singen wichtig ist? „Weil es ein ureigener menschlicher Ausdruck ist. Die Stimme ist ein natürliches Instrument, das jeder hat und mit dem man sich mitteilen kann. Sie ist etwas ganz besonderes“, sagt Berger. Deshalb gäbe es auch keine Menschen, die nicht singen könnten, meint er. Nur kunstfertig zu singen, das sei eine Gabe. „Man kann zwar vieles technisch erlernen und durch ein Studium verfeinern, aber es bleibt das gewisse Quäntchen, das man von Anfang an mitbringen muss.“
Das Quäntchen zu entfalten lernen die Chormitglieder zweimal die Woche, jeweils zwei Stunden lang; die Jüngeren haben nur eine Dreiviertelstunde Unterricht. Wer neu in den Konzertchor eintritt, bekommt zunächst einen Paten – also einen erfahrenen Sänger, der ihn begleitet. Bei mehrtägigen Probelagern verbringen die Kinder und Jugendlichen den ganzen Tag gemeinsam. Das schweißt zusammen; oftmals entstehen Freundschaften, die ein Leben lang halten. „Durch das gemeinsame Herumreisen sind wir eine richtig eingeschworene Gemeinschaft“, strahlt Josephine. Auch die Bindung zu den Chorleitern bleibt oft eng. Mit 18 Jahren, nachdem die Jugendlichen ihr Abitur abgelegt haben, endet für die meisten die Chorzeit. Beim Singen blieben die Wenigsten. „Das ist auch gar nicht so wichtig, sie in die Musikbranche zu bringen. Viel wichtiger sind die soziale und emotionale Kompetenz, die wir ihnen mit auf den Weg geben. Auf den Nachbarn zu achten, das ist viel wesentlicher für das weitere Leben“, bekräftigt Berger.
Wie Hochleistungssport
Das Standard-Repertoire des Chores umfasst geistliche Lieder aus dem 16. Jahrhundert bis hin zu zeitgenössischen Werken, aber auch Volksmusik. Welche Stücke eingeübt werden, entscheiden Berger und seine Assistentin Iris Geißler. Meist kommt die Auswahl auch bei den jungen Sängern gut an. Gerade bei moderner Musik sei der Zugang aber nicht ganz einfach. „Dann dauert es ein bisschen länger, aber wenn der Punkt überschritten ist, geht es ziemlich gut und schnell voran“, weiß Berger. „Singen ist wie Hochleistungssport. Da muss der ganze Körper mit all seinen Sinnen wach sein.“
Lina, Linda und Josephine mögen geistliche Gesänge am meisten. „Das sind die mit den Gänsehautmomenten“, sagt Linda. In ihrer Freizeit hören sie aber „ganz andere Musik“, zum Beispiel deutschen Rap oder was im Radio kommt, aber auch Klassik. Manchmal singen sie auch jenseits der Proben. „Wenn wir in der Gruppe sind, stimmen wir oft Lieder an – meist alte, die wir früher im Chor gesungen haben. Und zu Weihnachten singen wir auch mal als Straßenmusiker, obwohl wir das eigentlich gar nicht dürfen“, erzählt Lina. Würde man ihren Stimmen ein Instrument zuordnen, dann wären es Geige, Bratsche und Cello. Sie stehen für den ersten beziehungsweise zweiten Sopran und die Stimmlage Alt.
Lampenfieber haben die drei kaum noch; allenfalls bei Stücken, bei denen es in der Probe noch nicht so gut geklappt hat. Dass die Stimme manchmal versagt, findet Berger normal. Deshalb erhalten die Chorsänger ihr Training, das sie auf die Auftritte vorbereitet. „Wenn man kein Lampenfieber mehr hat“, sagt er, „sollte man sowieso aufhören“.
Lípa Musica – Philharmonischer Kinderchor Dresden. Kamenický Šenov (Steinschönau), Kirche des Heiligen Johannes des Täufers, Sonntag, 27. September, 17 Uhr, Informationen unter www.lipamusica.cz
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?