Eine Geschichte mit katastrophalem Ende
Marci Shore erzählt in „Der Geschmack von Asche“ von Schicksalen in Osteuropa
17. 9. 2015 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton
Als Stalin starb, sagt eine Protagonistin, habe sie geweint. „Diese Spuren der Sowjetisierung wird man nie los, und sie werden uns immer von den Menschen im Westen unterscheiden.“ Die ältere Dame ist eine von vielen, die in Marci Shores „Der Geschmack von Asche“ zu Wort kommen – ein Buch, das Stoff für Hunderte Werke liefern könnte, für Romane und Kurzgeschichten, Biographien Essays und Dissertationen.
„Der Geschmack von Asche“ ist von allem ein wenig. Die Historikerin Marci Shore, Jahrgang 1972, schreibt über „Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa“, wie der Untertitel lautet. Auf 376 Seiten unternimmt sie „eine Reise in die Seelenlandschaften der Menschen“ und trägt zusammen, was sie während ihrer 20-jährigen Beschäftigung mit und in Osteuropa erlebt hat. Immer wieder wechselt sie dabei zwischen wissenschaftlichem und persönlichem Ton, zwischen großen philosophischen Fragen und kleinen Einzelschicksalen. „Pani Hanka lebte nun schon gut fünfunddreißig Jahre in Toronto, aber sie hatte sich nie mit dem März 1968 ausgesöhnt und auch ihr Exil nie ganz akzeptiert. Dennoch hatte sie nicht anders gekonnt“, schreibt sie über eine polnische Dissidentin. Über einen Emigranten, der nach Prag zurückkehrt, heißt es: „Seine Freunde waren Kompromisse eingegangen, die Oskar nie würde verstehen können; sie hatten Dinge durchgemacht, von denen Oskar keine Ahnung hatte.“ Und über Marek Edelman, einen der wenigen Überlebenden des Warschauer Ghettoaufstands im Jahr 1943, liest man: „Er erinnerte mich an meine Jiddisch sprechenden Großväter: sarkastisch, barsch, ohne jegliche Sentimentalität. Aber darunter waren Freundlichkeit und Wärme zu spüren.“
Shore, die als Professorin an der Yale University lehrt, reist in ihrem Buch durch Raum und Zeit. Die Handlung setzt 1995 in einem Prager Café ein, mit der Trauerfeier für Oskar, der sich wenige Jahre nach der Rückkehr in seine Heimat das Leben genommen hat. Und sie endet 16 Jahre später, als die Autorin vom Tod des Dichterpräsidenten Václav Havel erfährt. Dazwischen fährt sie in die Slowakei und nach Rumänien, vor allem aber bewegt sie sich in Tschechien und Polen, trifft Gewinner und Verlierer der Revolution, Opfer und Anhänger des Sozialismus, lässt den Leser aber auch an persönlichen Begegnungen teilhaben, schreibt über Freundschaften und die Ängste ihrer Prager Vermieterin: „Besonders Paní Prokopová machte sich immerzu Sorgen um mich – weil ich Vegetarierin, Frau und alleinstehend war.“
Viel Raum nehmen ihre Recherchen über die Brüder Adolf und Jakub Berman ein. Adolf engagierte sich während des Krieges im jüdischen Widerstand in Polen. Danach nahm er eine führende Rolle in der marxistisch-zionistischen Partei Poale Zion ein und wanderte 1950 nach Palästina aus. Jakub dagegen gehörte in den Nachkriegsjahren dem stalinistischen Führungstriumvirat in Polen an und war für Kultur und den Sicherheitsapparat zuständig. 1957 wurde er aus der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ausgeschlossen. Ausführlich beschreibt Shore auch ihre Arbeit über den Schauprozess gegen die tschechische Dissidentin Milada Horáková in Prag. Sie zitiert aus Gerichtsprotokollen und persönlichen Briefen, die die Angeklagte kurz vor ihrer Hinrichtung an ihre Angehörigen verfasste: „Ihrer Tochter Jana wünschte Milada Horáková Unabhängigkeit. Sie wollte, dass Jana mutig war. Sie wollte, dass sie in der Schule fleißig lernte, regelmäßig Sport trieb und ihre Haut gut pflegte.“
Es sind weniger die Abrisse, über die Geschichte der ost- und mitteleuropäischen Länder, die Shores Buch lesenswert machen. Sie dienen eher der zeitlichen Einordnung statt in die Tiefe zu gehen. Auch setzt sie sich nicht theoretisch mit dem Begriff Totalitarismus auseinander, den sie immerhin im Untertitel verwendet. Spannend machen die Lektüre vor allem die Schicksale der Protagonisten, zu denen die Autorin über Jahre Kontakt hält, und die sie immer wieder auch an sich selbst zweifeln lassen: „Als ich schließlich auflegte, standen mir die Tränen in den Augen. Im Gegensatz zu Jarmila hätte ich dem Druck eines Verhörs keine Stunde standgehalten“, schreibt Shore. An anderer Stelle heißt es: „Abends weinte Seth sich in den Schlaf, dass ich ihn nicht liebte, dass ich ihn nie lieben würde, weil er Jude und Zionist sei und ich eine wurzellose Kosmopolitin – und eine Jüdin, die sich selbst hasste.“
Am Ende zieht sie ein ernüchterndes Resümee ihrer Beschäftigung mit der Vergangenheit: „Ich lernte, dass ich kein Buch mit einem befriedigenden Schluss schreiben konnte, da das Leben seiner faszinierenden Protagonisten eine unfassbare Katastrophe war. Ich lernte, dass die Vergangenheit sich nicht wiedergutmachen ließ.“
Marci Shore. Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa. Aus dem Englischen von Andrea Stumpf. C.H. Beck, München 2014, 376 Seiten, 26,95 Euro, ISBN 978-3-406-65455-8
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?