Die Robin Hoods mit den Schlittschuhen
Der Sammelband „Jánošík & Co“ setzt sich mit der Geschichte der Slowakei und nationalen Klischees auseinander
23. 9. 2015 - Text: Friedrich GoedekingText: Friedrich Goedeking; Foto: Programator2, CC BY 2.0
Über die Slowakei wissen viele Deutsche eher wenig. Wie sich die Slowaken selbst wahrnehmen und welche Fremdbilder bei ihnen über ihre europäischen Nachbarn vorherrschen, damit hat sich eine Gruppe von Wissenschaftlern auseinandergesetzt, deren Beiträge unter dem Titel „Jánošík & Co – Die Slowakei in Selbst-und Fremdwahrnehmung“ von Tilman Kasten herausgegeben wurden.
Der Name „Jánošík“ dürfte den meisten deutschen Lesern unbekannt sein. Wie Vladimír Segeš und Eva Krekovičová in ihrem Beitrag erläutern, lebte dieser Räuberhauptmann als eine Art Robin Hood im frühen 18. Jahrhundert. Bis heute wird Juraj Jánošík als slowakischer Nationalheld gefeiert; Premier Robert Fico gilt er sogar als Vorbild für seine Regierungstätigkeit. Jánošík ist nur ein Beispiel dafür, wie stark die nationale Identifikation der Slowaken mit der Vergangenheit verknüpft ist. So gilt das Mährerreich (etwa 830 bis 906) bis heute als das Goldene Zeitalter der slowakischen Nation.
Vor allem im 19. Jahrhundert, so die Autoren, stilisierten sich die Slowaken im Bemühen um eine eigene nationale Identität zu einem Bauern- und Hirtenvolk. Das kommunistische Regime förderte die Volkskunst als einen Beleg dafür, dass sich darin die Schöpferkraft des Arbeiters zeige. Noch heute wirbt die Slowakei mit Bildern einer ländlich heilen Welt, mit Hirtenidyllen und bunten Trachten um Touristen.
Daneben spielt aber auch Eishockey eine herausragende Rolle für das slowakische Selbstverständnis. Petra Steiger zeigt in ihrem Aufsatz, wie der Gewinn der Goldmedaille bei der Weltmeisterschaft im Jahr 2002 zu einem „nationalen Gedächtnisort“ wurde. Er steigerte das nationale Selbstbewusstsein der Slowaken, weil sie so endlich im Sport über den „großen Bruder“ Tschechien triumphieren konnten. Die Deutschen mögen sich beispielsweise an das „Wunder von Bern“ 1954 erinnern, als sie neun Jahre nach Kriegsende Fußballweltmeister wurden.
– Ich erinnere mich, wie unser Lateinlehrer, ein Doktor der Philosophie und bis 1945 Parteimitglied, am Tag danach vor unsere Klasse trat mit den Worten: „Wir Deutschen sind wieder wer.“ –
Slávka Otčenášová untersuchte Schulbücher für Geschichte aus den Jahren 1918 bis 2002 auf die Selbst- und Fremdbilder, die darin vermittelt werden. Unter all den wechselnden Regimen bildeten die negativen Stereotype gegenüber den Ungarn eine Konstante. Beispielsweise wird die moralische Überlegenheit der Slowaken gegenüber den Ungarn mit der frühen Bekehrung des Landes zum Christentum und dem heute immer noch starken Einfluss der katholischen Kirche begründet. In der Zwischenkriegszeit und unter dem kommunistischen Regime hob man gegenüber Ungarn die erfolgreichere soziale und wirtschaftliche Entwicklung hervor. Die Habsburger Monarchie wurde – wie auch in Böhmen – als Epoche der Unterdrückung der nichtdeutschen und nichtungarischen Bevölkerung bewertet.
Wer sich in der slowakischen Geschichte nur wenig auskennt, dem wird die Lektüre nicht leichtfallen, weil häufig historisches Wissen vorausgesetzt wird. Kann man beispielsweise Kenntnisse über das Mährerreich erwarten? Dass „das Stereotyp der tausendjährigen Unterdrückung der Slowaken durch die Magyaren in einem krassen Widerspruch zu den historischen Fakten steht“, trifft zu, gehört aber sicher nicht zum Allgemeinwissen der meisten Leser. Eine Einführung in die Geschichte des Landes wäre hilfreich gewesen. Oder: Warum erfährt der Leser nicht, dass das Klischee vom Bauern- und Hirtenland nicht der Wirklichkeit entspricht – der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt beträgt lediglich vier Prozent, die Industrie hingegen macht mehr als ein Drittel aus.
Neben dem tiefgründigen Aufsatz von Tilman Kasten über Božena Němcovás Slowakei-Bilder und den ebenso fundierten Beitrag von Lujza Urbancová über die Darstellung von Frauen und Männern in slowakischen Volksliedern hätte man sich gewünscht, dass auch die heutigen Rollenbilder von Frau und Mann beleuchtet werden. Unverständlich ist, dass sich angesichts der Ausgrenzung der in der Slowakei lebenden Roma kein Artikel mit den Vorurteilen der Slowaken gegenüber den rund 300.000 Roma in ihrem Land auseinandersetzt.
Tilman Kasten (Hg.): „Jánošík & Co“ – Die Slowakei in Selbst- und Fremdwahrnehmung. Waxmann-Verlag, Münster/New York 2015, 188 Seiten, 26,90 Euro, ISBN 978-3-8309-3273-4
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?