„Ein einmaliges Kulturerlebnis“
Direktorin Jitka Jílková zieht Bilanz nach zwanzig Jahren Prager Theaterfestival deutscher Sprache
27. 10. 2015 - Text: Stefan WelzelInterview und Foto: Stefan Welzel
Im Jahr 1996 gründete der Schriftsteller Pavel Kohout ein Festival, das bis heute renommierte Theatergruppen aus den deutschsprachigen Ländern auf die Bühnen der tschechischen Hauptstadt bringt. Das „Prager Theaterfestival deutscher Sprache“, das zwischen 5. und 29. November zum 20. Mal stattfindet, wird seit 1997 von Jitka Jílková geleitet. Im Gespräch mit PZ-Redakteur Stefan Welzel wirft Jílková einen Blick zurück auf die Anfänge des Festivals und geht der Frage nach, wie sich das tschechische vom deutschen Publikum unterscheidet.
Das Prager Theaterfestival deutscher Sprache feiert in diesem Jahr sein 20. Jubiläum und gehört inzwischen zu den größten Kulturereignissen der Hauptstadt. Wie ist eigentlich die Idee dafür entstanden?
Jitka Jílková: Der tschechische Schriftsteller und Dramaturg Alex Koenigsmark wollte nach der Wende ein ständiges deutschsprachiges Theaterhaus in Prag etablieren. Er hätte auch den Raum dafür gehabt, nämlich das ehemalige Kammerspieltheater (heute Café Central, Anm. d. Red.) in der Hybernská-Straße. Bald darauf bot sich Pavel Kohout an, Koenigsmark zu helfen und holte dafür Renata Vatková vom Berliner Schillertheater an Bord. Als sich dann aber aufgrund eigentumsrechtlicher Umstände herausstellte, dass es mit der Übernahme des Gebäudes nichts wird, kam die Idee eines jährlich stattfindenden Festivals auf.
Wie haben Sie das Geld dafür aufgebracht?
Jílková: Allen war natürlich klar, dass so ein Unterfangen teuer werden würde. Erst war man davon ausgegangen, verschiedene Quellen erschließen zu müssen. Doch nach einem Treffen in der Niederlassung der Deutschen Bank in Prag stand fest, dass deren Kulturstiftung die Kosten der ersten beiden Jahrgänge komplett übernehmen würde. Das war natürlich ein Glücksfall. Mit dem Budget konnten die Verantwortlichen sofort die besten Ensembles aus dem deutschsprachigen Raum verpflichten. Später fächerte sich das Sponsoring dann auf, seit Ende der neunziger Jahre unterstützt uns unter anderem der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds, der bis heute unser treuester Partner ist. Inzwischen gehören auch das tschechische Kulturministerium, die Stadt Prag, das Goethe-Institut und viele weitere öffentliche Stellen sowie private Firmen zu den Geldgebern.
Wie konnte die damalige Festivalleitung um Pavel Kohout die Theaterhäuser im deutschsprachigen Raum für sich gewinnen?
Jílková: Sie schrieb einfach direkt die größten und bedeutendsten Häuser an – das Wiener Burgtheater, das Thalia Theater in Hamburg, das Deutsche Theater Berlin und die Münchner Kammerspiele. Die Festivalleitung ging dabei aber ziemlich geschickt vor, indem sie den angefragten Intendanten die Auswahl der Stücke überließ. Und da die meisten Intendanten auch Regisseure waren, kamen sie mit ihren eigenen Inszenierungen und voller Begeisterung nach Prag.
Gab es Ressentiments in der tschechischen Theaterszene?
Jílková: Überhaupt nicht. Die Theaterleute hierzulande waren neugierig und standen dem Projekt sehr wohlwollend gegenüber. Negativ äußerte sich nur ein Deutscher. Ich kann mich gut erinnern, dass Michael Frank, damals Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, die Befürchtung hatte, dass das deutsche Theater das tschechische überrollen würde. Er hatte Angst vor dem deutschen Kulturimperialismus. Aber die Tschechen haben gelassen reagiert.
Welche drei Stücke aus den vergangenen 20 Jahren fanden Sie persönlich am bemerkenswertesten?
Jílková: Das ist schwierig. Als erstes kommen mir zwei Inszenierungen von Christoph Marthaler in den Sinn. Das war 1998. Damals wehte mit Ondřej Černý und Josef Balvín ein frischer Wind durch die Abteilung Dramaturgie – Renata Vatková hatte sich nach zwei Jahren bereits wieder verabschiedet. Es wurden modernere, provokantere Werke ins Programm aufgenommen. Balvín war ein exzellenter Kenner der deutschsprachigen Theaterlandschaft und sehr offen gegenüber experimentellen Stücken eingestellt. Überragend war auch die zwölfstündige Shakespeare-Aufführung „Schlachten!“ von Regisseur Luk Perceval im Jahr 2000 – nicht nur für die Akteure, sondern auch für das Publikum eine Herausforderung, die sich aber absolut gelohnt hat. Die Vorstellung vor rund 1.000 Zuschauern fand in einer alten Fabrikhalle in Vysočany statt. Eine interessante Erfahrung. Sobald man drin war im Stück, vergingen die Stunden wie im Flug. Als dritten Höhepunkt würde ich Tolstois „Krieg und Frieden“ von Sebastian Hartmann im Jahr 2011 nennen, inszeniert in den Barrandov-Filmstudios. Mit einer Länge von fünfeinhalb Stunden war auch das eine Mammutproduktion.
Sie scheinen lange Stücke besonders zu mögen …
Jílková: Das würde ich so nicht sagen. Eigentlich bin ich ein ungeduldiger Mensch und denke mir bei vielen Inszenierungen, dass ich so manches kürzer gestalten würde. Wenn die langen Stücke allerdings kurzweilig sind, weiß man das umso mehr zu schätzen und genießt jede einzelne Minute.
Fällt Ihnen spontan eine Anekdote aus 20 Jahren Theaterfestival ein?
Jílková: Nicht auf Anhieb. Was mich aber immer wieder beeindruckt, ist der Improvisationsgeist aller Beteiligten. Wenn es darum geht, scheinbar Unmögliches möglich zu machen. Gerade die großen Produktionen aus Deutschland stellen uns und die Prager Häuser mit ihrer teils veralteten Technik immer wieder vor Probleme. Und dann kommen die deutschen Regisseure und Bühnenbildner und finden mit ihren tschechischen Partnern kreative Lösungen. In solchen Momenten merkt man, dass Theater auch Teamarbeit bedeutet, dass man ohne Rücksicht auf den jeweils anderen völlig verloren wäre. Diese Arbeitsweise ist typisch für das Theater – das gilt nicht nur für deutsche, sondern wohl für alle Ensembles und Bühnen der Welt.
Was macht deutschsprachiges Theater in Ihren Augen so besonders?
Jílková: Um die Frage zu beantworten, müsste ich es vergleichen. Doch außerhalb Tschechiens und der deutschsprachigen Länder kenne ich mich kaum aus. Und einen Vergleich dieser beiden Theaterlandschaften möchte ich vermeiden, weil ich dann sehr ungerecht sein müsste. Ich sehe aus dem deutschsprachigen Raum meistens nur Stücke der besten Häuser, Regisseure und Ensembles, die nach einer Vorauswahl übrigbleiben. Zu mehr fehlt ganz einfach die Zeit. Mit dem Dramaturgie-Chef Petr Stredoň bin ich sehr viel unterwegs. Die deutsche Theaterszene ist unglaublich groß, reich und bunt. Wir konzentrieren uns dabei nur auf die besten Produktionen. Und die kann ich nicht mit denen vergleichen, die ich zufällig in Prag sehe, weil ich eben mal die Zeit dafür habe.
Wie sieht es mit dem Publikum aus? Sehen Sie Unterschiede zwischen deutschen und tschechischen Theatergängern?
Jílková: Die meisten Tschechen, die sich für Theater interessieren, wollen in erster Linie unterhalten werden, sich erholen. Die anderen besuchen unser Festival. Deutschsprachige Zuschauer kommen meiner Ansicht nach mit einer ganz anderen Erwartungshaltung zu einer Vorführung. Sie wollen nachdenken, grübeln und herausgefordert werden.
Ist deutschsprachiges Theater grundsätzlich politischer und kritischer als das tschechische?
Jílková: Das kann man vielleicht so sehen und hängt wohl wiederum mit dem Publikum zusammen. Der deutsche Durchschnittszuschauer ist viel anspruchsvoller. Er will beim Theaterbesuch an der eigenen Entwicklung arbeiten, einen Denkprozess erleben.
Das Internet entwickelt sich immer mehr zum Kommunikationsmedium Nummer eins, die digitale Revolution hat auch den Alltag verändert. Welche Rolle nimmt das Theater in der heutigen Zeit ein, was soll es für die Menschen sein?
Jílková: Ein Ort der persönlichen Begegnung! Jede einzelne Theatervorstellung ist ein einmaliges Kulturerlebnis. Die unmittelbare Interaktion zwischen Zuschauer und Schauspieler ist die große Stärke des Theaters und wird es auch immer bleiben. Die Aufgabe des Publikums besteht aber auch darin, vom Theater diese etwas andere Erfahrung zu erwarten.
Das Theater rückte in den vergangenen Jahrzehnten immer näher an das Publikum heran – bis hin zum direkten Kontakt, was einer Überhöhung von Brechts Epischem Theater entspricht. Was kommt als nächstes?
Jílková: Das möchte ich auch gerne wissen. Ich kann mir nur wünschen, dass wir die Trends rechtzeitig bemerken. Bis jetzt lagen wir oftmals richtig, vor allem wenn man unsere Auswahl der Stücke, die wir jeweils zu Beginn des Jahres vornehmen, mit dem Programm des Berliner Theatertreffens vergleicht. Da gibt es viele Übereinstimmungen. Wir orientieren uns natürlich auch an Fachmagazinen und Kritikerumfragen. Die renommierte Zeitschrift „Theater heute“ kürt jährlich die besten Häuser, Stücke, Schauspieler und Regisseure – auch da haben wir im Vergleich immer viele Treffer. Dieses Mal vor allem mit dem Stück „Die lächerliche Finsternis“ des tschechischen Regisseurs Dušan David Pařízek vom Burgtheater Wien.
Gibt es etwas, das deutschsprachiges Theater vom tschechischen lernen kann?
Jílková: In den sechziger Jahren gab es bestimmte Einflüsse aus der ČSSR, die nach Deutschland überschwappten. Danach aber kaum mehr. Die Frage ist, ob der zur Zeit gefeierte Pařízek wirklich als tschechischer Regisseur durchgeht, denn sein Handwerk hat er in Deutschland gelernt.
Der vielleicht größte Einfluss aus Böhmen auf das deutsche Theaterschaffen kommt nach wie vor von einem längst verstorbenen Prager Autor. Warum sind Werke von Franz Kafka ein so beliebter Stoff bei deutschen Regisseuren?
Jílková: Das ist ein Trend der letzten Jahre und vor allem in dieser Spielzeit verstärkt zu beobachten. Kafkas Werke eröffnen den Regisseuren viele Freiheiten und Interpretationsspielräume. Es gibt so viele unterschiedliche Sichtweisen auf Kafka, dass sich dementsprechend die Möglichkeiten für das Theater potenzieren.
Beim Theaterfestival in Prag laufen gleich drei Vorführungen mit Kafka-Erzählungen als Grundlage, darunter „Das Schloss“ des Schauspiels Frankfurt. Haben Sie bewusst nach solchen Stücken gesucht?
Jílková: Das könnte man denken, ist aber eher Zufall. Wir haben uns einfach nach den besten Aufführungen umgeschaut, und darunter befanden sich nun mal viele Kafka-Dramatisierungen.
Was kommt bei Ihrem Publikum besser an? Klassisches Autoren- oder modernes Regie-Theater?
Jílková: Von uns erwartet man ganz klar das moderne Regie-Theater. Man will Provokation, neue Trends und Impulse sehen. Die größte Überraschung wäre es wohl, wenn wir mal etwas ganz Altmodisches und Klassisches zeigen würden. Ein solches Stück würde uns und unserem Publikum aber wohl keinen Spaß machen. Abgesehen davon, dass es diese konservative Form einer Inszenierung, die sich stark an der Vorlage orientiert, nur noch selten gibt.
Welche Prager Bühne mit innovativem Programm würden Sie einem deutschen Theatergänger empfehlen?
Jílková: Natürlich das „Theater am Geländer“ (Divadlo Na zábradlí), das von Petr Štědroň geleitet wird. Wir arbeiten ja nicht zufällig zusammen, sondern weil wir einen ähnlichen Geschmack haben. Es ist das Haus, das in Tschechien die neuesten Trends setzt.
Welches Stück ist beim diesjährigen Festival Ihr persönlicher Favorit?
Jílková: Christoph Marthaler ist wieder da, das freut mich ganz besonders. Aber vielleicht muss ich an der Stelle „Don Giovanni. Letzte Party“ des aufstrebenden jungen Regisseurs Antú Romero Nunes vom Thalia Theater Hamburg hervorheben. Nach einer Inszenierung von ihm haben wir uns wirklich gesehnt, und nun klappt es ausgerechnet mit Mozarts „Don Giovanni“. Das Stück wird im Ständetheater gezeigt, also an dem Ort, an dem das Werk einst uraufgeführt wurde. Das wird eine wunderbare, interaktive Abschlussparty, worauf sich das Publikum besonders freuen kann. Aber ohne nun dick auftragen zu wollen: Die 20. Ausgabe unseres Festivals besteht eigentlich nur aus Höhepunkten!
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?