Historische Komplexe und ein Papagei

Historische Komplexe und ein Papagei

Petr Zelenkas Komödie „Ztraceni v Mnichově“ liefert eine neue Interpretation des Münchner Abkommens

27. 10. 2015 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Lucky Man Filma

Wenn es um das Münchner Abkommen geht, versteht man in Tschechien in der Regel keinen Spaß. Die Rollen sind klar verteilt: Die Briten und die Franzosen haben in der Septembernacht des Jahres 1938 die Tschechoslowakei verraten, die damit zum ersten Opfer der Nationalsozialisten wurde – vom „Münchner Verrat“ ist deswegen auch die Rede. Wer mit dieser Erwartung ins Kino geht, um Petr Zelenkas neuen Film „Ztraceni v Mnichově“ („Verloren in München“) zu sehen, wird zunächst bestätigt. Man sieht historische Aufnahmen, auf denen der französische Premier Édouard Daladier das Abkommen unterzeichnet. Es folgt ein Sprung ins Jahr 2008. Der tschechische Journalist Pavel Liehm (Martin Myšička) wird in Prag zu einer Pressekonferenz im Französischen Institut geschickt.
Dort wird den Vertretern der Presse anlässlich des Jahrestags des Münchner Abkommens ein besonderer Zeitzeuge präsentiert: Aus einem Vogelkäfig wird „Sir P“ hervorgeholt, ein 90-jähriger Papagei, der einst Édouard Daladier persönlich gehörte. Er sagt Sätze wie „Der Führer ist super“ und „Die Tschechen stinken“. Für Liehm und seine Kollegen steht fest, dass der Vogel das von Daladier gelernt haben muss – sie sehen darin den eindeutigen Beweis dafür, dass Daladier seine Entscheidung im September 1938 nicht bereut habe und sich die Franzosen endlich für den Verrat vor 70 Jahren entschuldigen müssen.

Würde Regisseur und Drehbuchautor Zelenka die Geschichte so weiterspinnen, wäre „Ztraceni v Mnichově“ wohl eine unterhaltsame, etwas skurrile Komödie geworden. Er wagt jedoch einen Bruch, mit dem wohl kein Zuschauer rechnet. Plötzlich geht es nicht mehr um das Münchner Abkommen als historisches Ereignis, sondern um die Frage, wie man in der Gegenwart einen Film darüber drehen kann. Das „Münchner Thema“ wird zum Komplex für alle Beteiligten. Heilung davon findet einer der Protagonisten in einer psychiatrischen Klinik.

Zelenkas Film ist Komödie und Tragödie zugleich; er legt offen, wie tief der „Verrat“ von 1938 bis heute in der tschechischen Gesellschaft verankert ist, und wie eng die Grenzen zwischen Trauma und Mythos verlaufen. Er bietet eine Alternative zur gemeinhin bekannten Interpretation des Münchner Abkommens und seiner Folgen, einen selbstironischen Blick auf die Tschechen, ihre Komplexe und ihr – wie es im Film heißt – „bedeutungsloses Land“.