Wie Wind und Wellen
Beim Prague Writers’ Festival setzen sich Schriftsteller mit dem Thema Angst auseinander
4. 11. 2015 - Text: Franziska NeudertText: Franziska Neudert; Foto: Arnon Grunberg/Lebowski Agency
„Sollen sie mich doch hassen, solange sie mich fürchten.“ Dieser Maxime des als Tyrann bekannt gewordenen römischen Kaisers Caligula hat sich das Prague Writers’ Festival in diesem Jahr verschrieben. Wie das Team um Festivalgründer Michael March erklärt, sei Angst die erste Reaktion des Menschen auf Leben und Tod gewesen. Dem großen Thema „Angst“ widmet das Festival nun seine 25. Ausgabe. Mit Schriftstellern aus dem Irak, dem Iran, Israel und den USA wollen die Organisatoren folgenden Fragen auf den Grund gehen: Was fürchten wir? Wen fürchten wir? Und warum fürchten wir uns? Von 6. bis 9. November lädt das Prague Writers’ Festival alle, die sich an einer Diskussion um diese Fragen beteiligen wollen, in die Räume des Senats ein. Moderiert werden die Lesungen und Vorträge von renommierten Literaturkritikern und Schriftstellern. Die Besucher erwarten wie gewohnt keine leicht bekömmlichen Veranstaltungen – beim Prague Writers’ Festival geht es um Kontroversen und um den Widerhaken im Alltag.
Eröffnet wird das Festival am Samstag, 7. November um 14 Uhr mit einer Lesung des irakischen Autors Samuel Shimon. Im Alter von 23 Jahren verließ Shimon seine Heimat eigentlich, um Filmemacher in Hollywood zu werden. Er kam nach Damaskus, Beirut, Kairo und Tunis – auf seinen Reisen wurde er mehrfach verhaftet und gefoltert. 1996 zog Shimon nach London, wo er bis heute mit seiner Frau Margaret Obank das Magazin „Banipal“ herausgibt, das arabische Gegenwartsliteratur auf Englisch vorstellt. Über das Leid, das ihm widerfuhr, sagt er heute: „Als ich geschlagen wurde, musste ich oft an die Gewaltszenen in amerikanischen Filmen denken. Ich stellte mir vor, in welcher Position sich die Kamera befand, und drehte mein Gesicht in diese Richtung, um dem imaginären Zuschauer das Blut zu zeigen, das mir aus Mund und Nase rann.“
Preis für Kokossis
Neben Shimon ist der tschechische Essayist und Lyriker Miloslav Topinka zu Gast. In einem Interview sagte der 70-Jährige vor kurzem: „Poesie ist überall und in allem. Sie ist nichts Ausschließliches. Jeder kann sie verstehen, so wie jeder den Wind, die Wellen und den Flug der Vögel und ihre Rufe verstehen kann.“ Am selben Nachmittag um 16 Uhr präsentiert auch der US-amerikanische Filmemacher und Journalist James Gabbe seine Arbeit. Er spricht unter anderem über seine jüngsten Filme über China und Indien sowie seine Tätigkeit als Fotograf. Der israelische Jurist und Schriftsteller Yishai Sarid wird erklären, warum es für ihn keine Ausflüchte oder klaren Antworten gibt. Im Anschluss können Gäste bei einem festlichen Gala-Abend mit den Autoren ins Gespräch kommen.
Am Folgetag erzählt der niederländische Autor Arnon Grunberg, weshalb er für seine Arbeit Feinde braucht und wieso es ohne sie keine Identität geben kann. Als Kriegsberichterstatter reiste der 44-Jährige bereits in den Irak und nach Afghanistan. Der Sohn deutscher Juden lebt in New York, wo er auf Niederländisch publiziert. Im April dieses Jahres feierte sein Theaterstück „Hoppla, wir sterben“ über einen entführten Oberstleutnant der Bundeswehr in Afghanistan bei den Münchner Kammerspielen Premiere. An Grunbergs Seite wird Marek Šindelka über das Thema des Festivals diskutieren. Der 31-Jährige zählt zu den bedeutendsten tschechischen Gegenwartsautoren. Für seinen Gedichtband „Strychnin a jiné básně“ („Strychnin und andere Gedichte“) wurde er 2006 mit dem Jiří-Orten-Preis ausgezeichnet.
Bei der zweiten Präsentation am Sonntag steht der iranische Schriftsteller Mahmoud Dowlatabadi im Mittelpunkt. Der in seiner Heimat als lebende Legende geltende Autor begann in den sechziger Jahren mit dem Schreiben. Berühmt wurde der heute 75-Jährige für seinen 3.000 Seiten umfassenden Roman „Kalidar“, der von einer kurdischen Familie handelt. Dowlatabadi verbrachte in den Siebzigern mehrere Jahre in Haft, da sein Werk vor allem von Oppositionellen gelesen wurde.
Den Spiros-Vergos-Preis für Meinungsfreiheit, der jährlich im Rahmen des Festivals verliehen wird, erhält in diesem Jahr der Grieche Konstantinos Kokossis. Als genauer Beobachter gelinge es ihm hervorragend, mit Ironie, Sarkasmus und einer Prise Selbstkritik die historischen Hintergründe seiner Protagonisten zu beleuchten, wie die Festivalleitung ihre Entscheidung begründete. „Sein Beitrag geht weit über die politische und literarische Sphäre hinaus“, heißt es auf der Homepage des Festivals.
Mit einer Präsentation von Grunbergs neuestem Roman „Gstaad“ klingt das Prague Writers’ Festival am Montag aus. Angst vor gelangweilten Zuhörern oder leeren Sälen müssen March und sein Team nicht haben. Die größte Angst, wie er verrät, haben sie vor Selbstgefälligkeit.
Prague Writers’ Festival, Freitag bis Montag, 6. bis 9. November, Ticket-Reservierungen an info@pwf.cz, Programm unter www.pwf.cz
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?