„Wir schließen unsere Türen nicht“
Der Abteilungsleiter im Innenministerium Petr Novák erklärt die tschechische Integrationspolitik
9. 12. 2015 - Text: Jan NechanickýInterview und Foto: Jan Nechanický
Tschechien gilt in Europa als ein Land, das bisher keinen großen Beitrag zur Bewältigung der Flüchtlingskrise geleistet hat. Nichtregierungsorganisationen haben die Behörden mehrfach für ihren Umgang mit Menschen auf der Flucht kritisiert. Petr Novák kennt die tschechische Integrationspolitik seit 25 Jahren aus der Praxis. Mittlerweile leitet er im Innenministerium das Referat für Migration und Integration. Mit PZ-Redakteur Jan Nechanický sprach er über konkrete Hilfe, Erfolgsaussichten und die Frage, weshalb hierzulande so wenig Asylanträge gestellt werden.
Tschechien wird oft für seinen Umgang mit Flüchtlingen kritisiert – vor allem die Bilder aus dem Lager in Bělá pod Bezdězem haben Aufsehen erregt. Warum hat das Innenministerium solche Einrichtungen?
Petr Novák: Diese Einrichtungen sind nicht für Flüchtlinge im Sinne des Asylgesetzes und der Genfer Konvention, also nicht für Menschen, die in Tschechien internationalen Schutz beantragen. Teilweise haben sie diese Möglichkeit sogar aktiv abgelehnt, weil Tschechien nicht ihr Zielland ist. Wir erfüllen durch dieses Vorgehen unsere Pflichten des Dubliner Abkommens. Wir müssen Menschen, die sich illegal in unserem Land aufhalten, registrieren und identifizieren. Wenn wir nicht herausfinden, über welches Land sie in die EU eingereist sind, dann bekommen sie einen Ausreisebescheid und müssen Tschechien verlassen und zurück in ihr Herkunftsland. In der Praxis machen sie sich jedoch auf den Weg in ihr Zielland, was heutzutage in der Regel Deutschland, Schweden und einige andere Länder der EU sind.
Was passiert, wenn jemand in Tschechien internationalen Schutz beantragt?
Novák: Zuerst wird er für eine kurze Zeit, ungefähr zwei Wochen, in eine Aufnahmeeinrichtung geschickt. Dort werden die ersten bürokratischen Schritte erledigt und eine ärztliche Untersuchung durchgeführt. Diese Einrichtung dürfen die Flüchtlinge nicht verlassen.
Wie geht es weiter?
Novák: Die Flüchtlinge sind nun offiziell Asylbewerber. Sie können entweder in einer Einichtung des Innenministeriums wohnen oder sich eine eigene Unterkunft suchen, müssen dann aber im Kontakt mit uns bleiben. Zurzeit gibt es zwei solche Gemeinschaftsunterkünfte in Tschechien. In Havířov und in Kostelec nad Orlicí. Dort verläuft das eigentliche Asylverfahren, das normalerweise bis zu drei Monate dauert. Diese Einrichtungen dürfen die Bewohner natürlich verlassen. Die Kinder besuchen die örtliche Schule und es gibt Freizeitangebote. Die Einrichtungen sind für nichtstaatliche und gemeinnützige Organisationen zugänglich, die dort Rechts- und Sozialberatung anbieten. Beide Einrichtungen gibt es schon seit langem und sie sorgen für keine großen Spannungen.
Wonach wird entschieden, ob ein Asylantrag bewilligt wird oder nicht?
Novák: Wir halten uns an die Genfer Konvention mit dem ergänzenden New Yorker Protokoll und natürlich an das Asylgesetz. Konkret werden mit jedem Antragsteller Gespräche geführt, Dokumente gesichtet sowie Beweise dafür gesammelt, dass der Antragsteller berechtigterweise annimmt, in seinem Herkunftsland gefährdet zu sein – sei es aus religiösen, politischen, ethnischen oder anderen Gründen. Bei der Beurteilung individueller Schicksale hilft uns ein Vierteljahrhundert Erfahrung. Natürlich haben wir inzwischen einen riesigen Informationsapparat, mit dessen Hilfe wir die Glaubwürdigkeit der Aussagen überprüfen. Mit Partnern im Ausland tauschen wir Informationen über die Herkunftsländer aus. Wir arbeiten mit Oganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch zusammen und mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Auch wenn keine persönlichen Unterlagen vorliegen, lässt sich in der Regel mit konkreten Fragen die Glaubwürdigkeit im Einzelfall bestätigen oder widerlegen.
Wie ist die Erfolgsrate der Anträge?
Novák: Es gab Zeiten, in denen die Erfolgsaussichten eines Asylantrags sehr gering waren, etwa ein bis zwei Prozent. In den Neunzigern und noch am Anfang des 21. Jahrhunderts, vor dem Beitritt zur EU, hatten wir viele Anträge aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, aus Bulgarien oder der Slowakei. Diese Migranten hatten keine Chance auf Asyl. Jetzt sind die Herkunftsländer der Antragsteller weit problematischer – Syrien, Afghanistan, Irak, Weißrussland. Natürlich ist die Chance eines Asylbewerbers aus diesen Ländern viel größer als die von Menschen aus sicheren Herkunftsländern. Ungefähr einem Drittel der Anträge wird derzeit stattgegeben.
Was passiert, wenn das Asylverfahren erfolgreich ist?
Novák: Menschen, die selbständig und materiell gesichert sind, fangen ohne Hilfe ein Leben in Tschechien an. Die meisten nutzen jedoch das Angebot des Staates und ziehen in ein Integrationszentrum. Davon gibt es in Tschechien vier, in Havířov, Brünn, Jaroměř und in Ustí nad Labem. Die Einrichtungen dienen der ersten Orientierung. Die Menschen bekommen dort grundlegende Informationen über das Leben in Tschechien. Vor allem sollen sie möglichst viele Tschechischkurse absolvieren. Der kostenlose Sprachunterricht, den das Bildungsministerium organisiert, dauert 400 Unterrichtsstunden. Man muss aber nicht in der Einrichtung wohnen, um am Integrationsprogramm teilzunehmen.
Abgesehen vom Sprachkurs, woraus besteht das Programm noch?
Novák: Wir helfen auch beim Einstieg in den Arbeitsmarkt, zum Beispiel durch Umschulungen und Unterstützungsprogramme. Außerdem gibt es Hilfe bei der Wohnungssuche. Das hat bis jetzt so funktioniert, dass der Staat einen Teil der Miete erstattete. Die Gelder wurden immer direkt an den Vermieter überwiesen. Die Hilfe war beschränkt auf drei Jahre. Das System wird ab 2016 geändert. Wir wollen Integration nicht nur als Wohnraum- und Arbeitsbeschaffung verstehen, sondern als Eingliederung in den Kulturkreis. In den ersten Monaten nach der Ankunft sollen die Neuankömmlinge einen Assistenten bekommen, der ihnen praktische Ratschläge für das Leben in der neuen Stadt oder Gemeinde gibt und ihre Fragen beantwortet. Diese Person sollte ihnen bei der Anmeldung im Bürgeramt, beim Arzt oder in der Schule helfen. Es wird künftig eine Institution geben, die alle Aufgaben in diesem Bereich übernimmt. Für das Jahr 2016 ist das die tschechische Caritas.
Aus welchen Ländern kommen die meisten Asylbewerber nach Tschechien?
Novák: Während der letzten Jahre stand die Ukraine an erster Stelle. Auf dem zweiten Platz lag Syrien. Man muss aber dazu sagen, dass es sich um Zahlen unter 100 handelt. Insgesamt hatten wir im Jahr 2015 etwa 1.500 Asylanträge.
Warum so wenige?
Novák: Dass die Zahlen so niedrig sind, liegt nicht an unserem System. Wir schließen unsere Türen nicht für Asylbewerber. Es gehört zu den Pflichten eines demokratischen Landes, allen diesen Menschen entgegenzukommen und ihnen ein gerechtes Verfahren zu garantieren. Aber wir sind nun mal für die meisten Migranten nicht das Zielland. Wir sind bereit, uns mit jedem Antrag zu beschäftigen. Aber wir können uns nicht mit Menschen beschäftigen, die diesen Antrag nicht stellen.
Wie steht Tschechien im Vergleich zu Ländern wie Polen, der Slowakei oder Ungarn dar?
Novák: Wenn man zählt, wie viele Ausländer offiziell in Polen, der Slowakei und Ungarn leben, dann ist das Ergebnis immer noch um 100.000 geringer als die Zahl der Ausländer in Tschechien. Der Ausländeranteil hierzulande liegt bei etwa 4,5 Prozent, also nur sehr knapp unter dem Durchschnitt in der EU.
Und wenn man die Zahl der Asylanträge vergleicht?
Novák: Wir können uns natürlich nicht mit Ungarn vergleichen, das ist ein ganz anderes Kapitel. In Polen sind die Zahlen ungefähr gleich, in der Slowakei sind sie niedriger.
Und im europäischen Vergleich?
Novák: Nach Kroatien und Slowenien zum Beispiel sind seit September rund 350.000 Menschen eingereist. Davon haben in Kroatien zehn Personen Asyl beantragt. In Slowenien ist es ähnlich, die Zahl der Asylanträge liegt etwa bei 60. Aber auch Länder wie Österreich sind für die meisten Migranten nicht das Zielland, nur zehn Prozent der Flüchtlinge, die dort einreisen, beantragen dort auch Asyl.
Wie viele Flüchtlinge könnte Tschechien Ihrer Meinung nach problemlos aufnehmen?
Novák: Wir haben in der Vergangenheit viel höhere Zahlen bewältigt als jetzt. Es gab auch Jahre, in denen wir 20.000 Asylanträge hatten. Während des Krieges in Bosnien haben zehntausende Menschen bei uns Zuflucht gefunden. Und in der Öffentlichkeit wurden diese Zahlen kaum wahrgenommen. Man hat einfach verstanden, dass diese Menschen vor dem Krieg flüchteten. Ein Unterschied zu heute lag vielleicht darin, dass die Flüchtlinge teilweise aus Ländern kamen, die die Tschechen aus ihrer eigenen Erfahrung gekannt haben und auch dass sie eine ähnliche Sprache gesprochen haben. Es war aber kein Problem, dass es größtenteils Muslime waren. Ich will damit sagen, dass Tschechien als Staat und als Zivilgesellschaft größere Menschenmengen aufnehmen und ihnen auf vernünftige Weise helfen kann. Verlangen Sie von mir aber keine genauere Zahl, das kann niemand sagen. Generell könnte Tschechien auch eine größere Migrationskrise bewältigen. Wir würden dann aber über andere Standards für die Hilfe sprechen als vorher beschrieben.
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