Suche nach der verlorenen Zeit
Erinnerungen an das „Prager Tagblatt“ (erschienen am 18. Januar 1996)
13. 1. 2016 - Text: Alena WagnerováText: Alena Wagnerová; Foto: APZ
Als ich kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in einem Koffer auf dem Dachboden eine Nummer des „Prager Tagblattes“ mit einer großen Fotografie von Masaryk gefunden hatte, konnte ich es nicht fassen. Ein Bild von „unserem“ Präsidenten auf der Titelseite einer deutschen Zeitung? Es war noch nicht so lange her, als uns die Gestapo bei einer Hausdurchsuchung dringend „empfohlen“ hatte, sein Bild aus dem Wohnzimmer zu entfernen und meiner Mutter erzählte, Masaryk sei doch ein Jude, das Schlimmste in den Augen eines Gestapomannes. Es waren doch „die Deutschen“, die seine Statuen von allen öffentlichen Plätzen entfernen ließen und das Überkleben seines Namens in Lehrbüchern anordneten! Und jetzt dieses Bild in einer deutschen Zeitung! Mein Vater versuchte mir zu erklären, wie das Bild von Masaryk, in unserer Familie nach Gott und Jan Hus die dritthöchste Autorität, auf die Titelseite einer deutschen Zeitung kam. Ich hörte ihm zu, begreifen konnte ich es aber nicht. Vielleicht auch deswegen, denke ich heute, weil die Erklärung meines Vaters nicht sehr überzeugend war, da für ihn selbst die Zeit, als Tschechen, Deutsche und Juden mehr oder weniger friedlich nebeneinander lebten und meine Eltern, ohne sich als Verräter fühlen zu müssen, die wunderbaren Orgelkonzerte im Brünner Deutschen Haus besuchen konnten, später im Protektorat eine unberührbare Tabuzone, in eine unbegreifliche Ferne gerückt war. So gründlich wurde eine Kulturlandschaft durch die Erfahrung des Nationalsozialismus ausgemerzt, bis nur noch ein weißer Fleck übrigblieb. Hic sunt leones. Deutsche Autoren lasen wir zwar nach wie vor, an erster Stelle Thomas Mann, später kam Heinrich Böll dazu. Aber ein deutscher Dichter aus Prag? Unvorstellbar! Die fremd anmutenden, langsam verfallenden Häuser und Siedlungen im Grenzgebiet registrierten wir zwar nach wie vor, die Reflexion blieb aber noch aus.
Nur langsam mit dem ersten Tauwetter nach Stalins Tod und dem XX. Parteitag begannen sich die Lücken im Bewusstsein zu füllen, in Brünn sicherlich etwas langsamer als in Prag. „Und da gab es noch irgendeinen Kafka, er soll ein ganz ausgezeichneter Schriftsteller gewesen sein“, teilte mir einmal in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ein Freund mit, gerade als unser Trolleybus in die Kurve um die Brünner Universitätsbibliothek einbog. Etwas später, 1959, hielten wir schon die tschechische Übersetzung vom „Prozeß“ in der Hand. Ein einmaliges großes Leseerlebnis, einem befreienden Gewitter gleich. Es war die Ästhetik, die hier die ethischen Maßstäbe des menschlichen Tuns wiederherstellte, den Menschen in eine absolute Verantwortung für sein Handeln entließ. Und gerade dies haben wir gebraucht in dieser lauwarmen, poststalinistischen Zeit. Nie wieder habe ich Kafka mit einer solchen Begeisterung gelesen wie damals – ohne jeden Kommentar und jede Interpretationshilfe.
Wiederkehrendes Gedächtnis
Die Informationen über das, was in der Literaturgeschichte als die „Prager deutsche Literatur“ einging, blieben aber nach wie vor für einen Nichtinsider spärlich und bruchstückhaft. Erst durch Max Brods „Streitbares Leben“, 1966 auf Tschechisch erschienen, wurden für uns, die nachwachsenden Intellektuellen, die Konturen der verlorenen Kulturlandschaft in ihrem vollen Umfang wieder sichtbar. Und dies alles spielte sich in den gleichen Straßen, in den gleichen Gemäuern ab, in welchen auch wir lebten! Wie ich kurz darauf feststellte, war aber auch noch das Gedächtnis da.
Es war kurz nach dem Ende des so hoffnungsvollen Zwischenspiels des Prager Frühlings, als ich bei der Wochenzeitung, die bald verboten werden sollte, zum ersten Mal Dienst in der Druckerei hatte. Aus Max Brods Memoiren wusste ich schon etwas von den Geschichten in der Panská-Gasse, wo wir unsere Zeitung druckten und der Verlag „Mladá fronta“ seinen Sitz hatte. Die Zensur hatte schon wieder das Sagen, und so musste ich schnell einen Ersatz in die Setzerei bringen. Der Weg dorthin wurde mir beschrieben, bald habe ich mich aber in dem unterirdischen Labyrinth hoffnungslos verirrt, bis ich endlich in den Rotationsmaschinenraum geriet. Als ich die Drucker, die gerade Pause machten, nach dem Weg in die Setzerei fragte und mich beschwerte, wie kompliziert es sei, sich hier zurecht zu finden, schaute mich einer der Drucker, ein alter Mann mit einem sorgfältig gedrehten grauen Schnurrbart strafend, aber doch verständnisvoll an und sagte: „Junge Frau, hier können sie sich nicht zurechtfinden. Hier, das ist doch das Prager Tagblatt.“
Es war im Spätherbst 1968, dreißig Jahre nachdem hier die letzte Nummer vom Prager Tagblatt gedruckt worden war.
Die Schriftstellerin und Übersetzerin Alena Wagnerová wurde 1936 in Brünn geboren und studierte Biologie, Pädagogik und Theaterwissenschaft. 1966 ging sie als freie Publizistin nach Prag und lebt seit 1969 in Saarbrücken.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ