Tempodribbling, Freundschaft und St. Pauli
Avoy MU Brünn ist Tschechiens erster Blindenfußballverein – und auch in Deutschland und Belgien ein geschätzter Gegner
3. 3. 2016 - Text: Stefan WelzelText: Stefan Welzel; Fotos:S. Welzel, Michael Reichstäter, Silvie Hrbáčková
Rasant und elegant nähert sich Stürmer Ondřej Gottlieb dem Tor. Den Ball führt er zunächst mit dem linken, dann mit dem rechten und wieder mit dem linken Fuß – ein Tempodribbling, mit dem Ondřej seine technische Klasse beweist. Seinen Flachschuss pariert der Torhüter zwar, aber der Coach belohnt die Aktion mit Applaus. Ähnliche Szenen spielen sich täglich auf den Trainingsplätzen dieser Welt ab. Doch Ondřej unterscheidet sich in einem Punkt von vielen anderen Fußballern: Der 22-jährige Student sieht den Ball gar nicht, er hört ihn nur.
Ondřej ist einer von bis zu zwölf Aktiven des Brünner Klubs Avoy MU (für Masaryk-Universität). 2008 gründete Jitka Graclíková mit einer Handvoll Spielern den ersten Blindenfußballverein des Landes. Die mittlerweile 33-Jährige arbeitet als Bewegungstrainerin für körperlich Behinderte an der Brünner Uni. Für Avoy engagiert sie sich ehrenamtlich: „Es ist ein Hobby, allerdings eines, das mich ziemlich ausfüllt.“ Neben den Trainingseinheiten organisiert Graclíková Turniere und Ligaspiele für den Verein und sucht nach Sponsoren. Dafür geht in turbulenten Wochen schon mal die ganze Freizeit drauf. Doch bereits nach wenigen Minuten als Gast beim Training in der Universitäts-Sporthalle wird klar: Das hier ist mehr Vergnügen und Berufung als Arbeit.
Das anderthalbstündige Training leitet Graclíkovás Zwillingsbruder Milan. Mit den Geschwistern stehen außerdem Silvie, die Fotografin des Klubs, sowie Assistenztrainer Vojtěch am Spielfeldrand. Das Team besteht an diesem Abend aus fünf Feldspielern und dem Torwart. Letzterer ist der Einzige in der Mannschaft ohne Sehbehinderung. „Leider konnten heute nicht alle kommen, aber es geht auch so. Wir sind gut im Improvisieren“, sagt Graclíková.
Rasselnder Ball
Die Sportler beginnen mit der Aufwärmrunde. An den vier Ecken der Halle positionieren sich die Helfer. Sie rufen laut die Ziffern eins bis vier. Daran können sich die Spieler bei ihren Sprints und anderen Laufübungen orientieren. Überhaupt geht bei einem Blindenfußballer zunächst alles über das Gehör. „Erst mit der Zeit und der Routine gehen gewisse Bewegungsabläufe oder Spielzüge quasi ins Blut über“, erklärt Torschützenkönig Ondřej. Danach stehen Dehnübungen an. Es geht ausgesprochen familiär zu, eher wie bei einem Feierabend-Kick unter Freunden als beim Training eines erfolgreichen Fußballteams. Doch der Eindruck täuscht. Bald folgen technische Übungen am Ball, der mit Rasseln gefüllt ist, damit die Spieler ihn hören können. Die Konzentration steigt.
Neben Avoy Brünn existiert in Tschechien nur ein weiterer Blindenfußballklub. Der BSC Prag wurde ein Jahr nach den Brünner Pionieren gegründet. Seither tragen die beiden Vereine die tschechische Meisterschaft in vier Spielen pro Jahr untereinander aus. In fünf von sieben Fällen gewann bisher Brünn den Titel.
Doch die Höhepunkte des Kalenders sind für die meisten Fußballer nicht die Meisterschaftsduelle, sondern die internationalen Turniere. Einmal im Jahr findet der „Bučovice Blind Football Cup“ einige Kilometer außerhalb von Brünn statt. Eine zweitägige Veranstaltung, bei der Mannschaften aus Deutschland, Griechenland, Belgien, England, Irland und sogar aus Brasilien anreisen. „Das ist sowieso das Beste an Avoy – dass wir neue Leute aus anderen Ländern und Kulturen kennenlernen“, erzählt der 24-jährige Verteidiger Vojta. Vor allem die Auslandsreisen, zum Beispiel zum Partnerklub FC St. Pauli, genieße er. Das seien spannende Mischungen aus Kultur und Sport, so Vojta. „Tagsüber wird gespielt, abends zusammen diskutiert, musiziert und gefeiert.“
Das tschechische Team mache dem Ruf seines Landes als Biernation immer wieder alle Ehre, erzählen die Spieler. Mit einem schelmischen Lächeln verrät Graclíková, dass die Brünner auch dann noch gut spielen, wenn am Abend zuvor eine Kneipentour durch Hamburg auf dem Programm stand. Das Turnier im vergangenen September im deutschen Norden gewann Avoy trotz oder vielleicht weil man es mit der Disziplin nicht so genau nahm. Denn was für alle Mannschaftssportarten gilt, ist auch für Avoy der Schlüssel zum Erfolg: Der herausragende Teamgeist mobilisiert besondere Kräfte. „Einmal musste unser zweiter Stürmer Jan mit Fieber mit auf ein Turnier kommen, weil Ondřej ausfiel. Wer hätte sonst die Tore zum Turniersieg schießen sollen?“ erinnert sich Graclíková. „Nach Schlusspfiff bin ich schweißüberströmt fast zusammengebrochen. Aber egal, wir haben den Pokal geholt“, erzählt Jan stolz.
„Ein harter Sport“
Beim Torschusstraining glänzt der 32-jährige Informatiker. Seine Bewegungen wirken nicht ganz so geschmeidig wie die seines Sturmpartners Ondřej, dafür erweist er sich an diesem Abend als treffsicher. Es folgt das abschließende Trainingsspiel. Assistenztrainer Vojtěch steht als zweiter Torhüter zwischen den Pfosten. Auf dem Feld spielen zwei gegen drei. Stammtorwart Tomáš werden bald die Bälle von Ondřej um die Ohren fliegen. Diejenigen, die nur leicht oder mittelschwer sehbehindert sind, müssen Augenklappen tragen. Den Kopfschutz ziehen sich aber alle über. „Es ist ein harter Sport und es geht selbst beim Training ziemlich zur Sache“, so Graclíková.
Sie nimmt hinter dem Tor Stellung. Ihre Aufgabe besteht darin, die Spieler mit Zurufen anzuleiten, sobald sie im letzten Drittel vor dem Tor angekommen sind. Bei offiziellen Spielen steht zusätzlich der Trainer an der Bande, um Anweisungen zu geben. Das Feld ist rund 20 Meter breit und 40 Meter lang. Ein Team besteht aus fünf Feldspielern und dem Torhüter.
Zuerst folgen noch einige Tipps von Coach Milan. Danach pfeift er die halbstündige Partie an. Plötzlich wird es laut auf dem Feld. Immer wieder hallt das spanische Wort „voy“ durch die Halle. „Das heißt ,ich gehe’ und wird von allen Blindenteams der Welt so gebraucht. Das ist die internationale Regel“, erklärt Graclíková. Als bräuchte es den Beweis für die angekündigte Härte des Spiels geraten nach fünf Minuten der 48-jährige Kapitän Aleš und der stämmige Ondřej aneinander. Aleš hindert den Stürmer erfolgreich am Dribbling, spielt aber ein rüdes Foul und Ondřej fliegt in Richtung Sprossenwand. Für einige Sekunden ist die Freundschaft vergessen; Ehrgeiz und Siegeswille sind entfacht. Dennoch setzen sich letzten Endes Ondřej und sein Verteidiger Vojta gegen Jan, Aleš und den 20-jährigen Hýnek durch.
„Wir haben unser Niveau in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesteigert und spielen bei den meisten Turnieren um den Gesamtsieg“, schildert Milan die Fortschritte seines Teams. Seit zwei Jahren betreut er Avoy als leitender Trainer, ein Gehalt bekommt er dafür nicht. Sämtliche Helfer arbeiten ehrenamtlich. „Insgesamt beträgt unser Jahresbudget rund eine Million Kronen. Den größten Anteil daran haben die Spesen für die Reisen zu den Turnieren im Ausland“, so Graclíková, die sich selbst als „Mädchen für alles“ bei Avoy bezeichnet. Geldgeber und Partner sind unter anderem der heimische Fußballverband, die Universität Brünn und der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds.
Partnerklubs in aller Welt
Letzterer finanzierte vergangenen Sommer ein Trainingslager in Bučovice. Dabeikam das Blindenteam des FC St. Pauli vier Tage zu Besuch. Zum Partnerklub bestehen auch enge persönliche Beziehungen. „Die Freundschaften innerhalb unserer Mannschaft und die, die wir durch die vielen Reisen neu schließen, sind für mich das Wertvollste“, antwortet Ondřej auf die Frage, was er am Fußballspielen bei Avoy am meisten schätze. Auch Aleš, der Älteste im Team, mag die Trips ins Ausland. „Aber noch viel schöner ist es natürlich, wenn man Titel und Pokale gewinnt.“ Nach dem Training umarmen sich die beiden wieder, der Rempler von vorhin ist längst abgehakt. „Das gehört dazu. Fußball ist eben ein körperbetonter Sport. Das mag ich ja so sehr daran. Ich habe einen Bürojob und zum Ausgleich möchte ich mich richtig verausgaben. Schach käme für mich nicht in Frage“, erklärt Aleš mit einem Lächeln. Sein Ziel ist es auch mit bald 50 Jahren, sich ständig zu verbessern. Sein Einsatz und Ehrgeiz wirken ansteckend, deshalb trägt er auch die Kapitänsbinde.
Inzwischen gehört Avoy Brünn europaweit zu gern gesehenen Gästen, wenn es darum geht, ein Duell mit einem starken Gegner auszutragen. Im Juli 2015 lud das belgische Nationalteam die Brünner für Vorbereitungsspiele zur EM zu sich ein. Die Partien endeten 1:1 (mit Sieg der Brünner im Elfmeterschießen) und 0:1. „Doch die allerbesten Teams kommen aus Südamerika, vor allem aus Brasilien, wo der Blindenfußball seine Wurzeln hat“, weiß Graclíková.
Auch der heimische Bučovice-Cup geht regelmäßig an die Kicker vom Zuckerhut. Stets gewann der ICB Bahia den Titel. „Die haben beim letzten Mal aber so heftig gefeiert, dass ihnen dabei der Pokal kaputtgegangen ist“, erzählt Graclíková. „Sie wollten, dass wir ihn noch vor ihrer Abreise ersetzen. Aber das ging nicht so schnell und kostet ja auch etwas Geld. Wir haben uns dann doch erweichen lassen und ihnen einen neuen nach Brasilien geschickt.“ Freundschaften gehen bei Avoy Brünn über alles. Aber in diesem Jahr wollen Aleš und Co. trotzdem endlich ihr Heimturnier gewinnen und den Brasilianern den Pokal wieder abknöpfen. „Das wird schwierig, die sind einfach unglaublich stark“, so Graclíková. Da reichen wohl Ondřejs schöne Dribblings und Tore alleine nicht aus.
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