Mumien als Düngemittel
Der Prager Autor Petr Stančík vermischt in seinen Büchern historische Tatsachen mit wilder Fantasie
23. 3. 2016 - Text: Maria SilenyText: Maria Sileny; Fotos: privat, Národní galerie v Praze
Verborgene Schätze, dunkle Verschwörungen, Geheimnisse: Von all dem fühlt sich Petr Stančík geradezu magisch angezogen. In seinen jungen Jahren durchstöberte der Schriftsteller brachliegende Burgen und Schlösser, scheute weder morsche Bretter noch die feuchte Dunkelheit tiefer Keller. Einmal schlief er sogar in einem leeren Sarg auf einem Dachboden, weil er keine andere Übernachtungsmöglichkeit fand …
Das alles überstand der heute 47-Jährige unbeschadet. Was ihm jedoch zum Verhängnis hätte werden können, war seine mächtige Vorstellungskraft. Als Kind zweier Lehrer wuchs er während der Zeit der Normalisierung in einer Kleinstadt auf. Ein paar Jahre vor dem Zusammenbruch der Diktatur traf den Pädagogik-Studenten das Schicksal vieler Dissidenten. Weil er als 19-Jähriger unter eine Petition, die dem Regime nicht genehm war, seine Unterschrift gesetzt hatte, flog er von der Hochschule und musste sich dann bis zur Wende als Maurer und Fabrikarbeiter durchs Leben schlagen. Um der damaligen Hoffnungslosigkeit zu entkommen, schuf er sich in Gedanken einen Doppelgänger, einen Aristokraten mit feinen Manieren, stets elegant gekleidet; einen Dichter der Dekadenz, der sich am Rande der Gesellschaft bewegt. Seinem Alter Ego gab Stančík den Namen Odillo Stradický. Unter diesem Pseudonym schrieb er fortan gegen all das an, was ihn niederdrückte. Dann kam der politische Umbruch und es wurde Zeit, den imaginären Seelenverwandten zu Grabe zu tragen. Stančík legte den Tod Odillo Stradickýs für Dezember 2006 fest. Und ziemlich genau dann erkrankte er selbst so schwer, dass er fast gestorben wäre. Vermutlich war es wieder seine Vorstellungskraft, die ihn ins Leben zurückholte.
Spätestens da wusste der wiedergeborene Stančík, dass die Realität nichts weiter ist als „eine Täuschung, die sich herstellen lässt“, wie er sagt. Sein Regie-Studium und vor allem seine Arbeit als Werbetexter verstärkten diese Einstellung. Der Mysterien-Liebhaber wurde selbst zu einem Geheimnis. Denn wer von den Tschechen weiß schon, dass hinter den Werbesprüchen, die vielerorts auf Plakaten stehen, gerade er, der bekannte Buchautor steckt?
Igelbraten und Fledermausbrust
Als Schriftsteller erschafft Stančík meisterhaft imaginäre Welten, die er in ein sorgfältig recherchiertes historisches Umfeld setzt. Er liebt surrealistische Bilder, absurde Geschichten, Wortspiele. Damit spart er auch in seinem aktuellen Thriller „Mlýn na mumie“ („Die Mumienmühle“) nicht, der letztes Jahr mit dem tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera ausgezeichnet wurde. Darin entführt Stančík die Leser ins Prag des Jahres 1866 und lässt sie mit Kommissar Leopold Durman die Jagd nach einem Serienmörder erleben, der Postboten umbringt – und das auf eine bizarre Art und Weise. Mumienmühle? Ausgerechnet die sei kein Produkt seiner Fantasie, beteuert Stančík. Im 19. Jahrhundert, als das Zeitalter der Industrialisierung angebrochen war, hätten britische Firmen Mumien aus Ägypten eingeführt, um mit ihnen die Felder zu düngen, das habe er recherchiert. Da muss es doch Mühlen gegeben haben, dachte er sich. Mumienmühlen. Daher der Buchtitel.
Die beginnende Industrialisierung im 19. Jahrhundert wie auch der Preußisch-Österreichische Krieg 1866 bilden die historische Kulisse für den ungewöhnlichen Krimi. Gekonnt verbindet Stančík darin die Bereitschaft zum Mord mit Spiritualität, mischt Pornografie mit Philosophie und Genuss mit Mystik. Am Ende möchte er zeigen, dass der Massenmord im Krieg und die Entmenschlichung der Gesellschaft durch die Massenproduktion ungleich schwerer wiegen als die Taten eines Einzelmörders, so perfide sie auch sein mögen.
Wer von den Lesern jedoch meint, einen moralisierenden Roman in die Hände zu bekommen, der kennt Stančík nicht. In dem vielschichtigen Geschehen lässt er Kommissar Durman ausgefallenen kulinarischen wie erotischen Genüssen nachgehen. Zum goldenen Gerstensaft kostet der Romanheld etwa einen Igelbraten, ein Fledermausbrust-Frikassee, einen von Innen gebratenen Ochsenkopf oder eine Süßspeise aus Knochenmark. Von seinen anstrengenden Fahndungspflichten erholt sich der Kommissar ausgiebig in diversen Prager Bordellen.
Duft der Bücher
Und als ob diese Mischung noch nicht üppig genug wäre, ist sie mit Verschwörungstheorien, Rätseln und Seltsamkeiten durchflochten. Was auch immer das Leben zu bieten hat, in Stančíks Buch ist es zu finden. Neben fiktiven Figuren begegnen Leser auch historischen Persönlichkeiten. Kaiser Franz Josef I. zum Beispiel, Karl Marx oder der Schriftsteller Leopold von Sacher-Masoch tauchen im Laufe der Handlung auf.
„Die Schriftstellerei ist eine undankbare Sache“, sagt Petr Stančík über einem Glas Bier in einer Kneipe unweit des Prager Ständetheaters. Gut leben könne man davon nicht. Und doch kann er es nicht lassen. Der Drang, anderen etwas mitzuteilen, treibe ihn an. Die Liebe zum Medium Buch habe seine Mutter bereits früh in ihm geweckt. Als sie ihn eines Tages in ein Antiquariat mitnahm, entfachte sie eine Leidenschaft, die bis heute anhält. Der Laden, der „einem Bordell und einem Friedhof zugleich ähnelte“, sei atemberaubend gewesen, erinnert sich der Schriftsteller: „Der feine Duft der Bindungen mischte sich mit dem von Papierschimmel und von Schweiß, eingefressen in die ledernen Buchrücken.“
Stančík lächelt. Gerade eben hat er ein neues Buch herausgebracht, das allein der Erforschung historischer Fakten gewidmet ist. Darin befasst er sich mit dem Schicksal der gotischen Fronleichnamskapelle, die im Mittelalter von der „Bruderschaft des Reifens und des Hammers“ auf dem heutigen Karlsplatz in Prag errichtet und Ende des 18. Jahrhunderts abgerissen wurde. Archäologen haben vor einigen Jahren die Fundamente des verschwundenen Gotteshauses entdeckt, das anscheinend die Form eines achtzackigen Sterns hatte. „Die Kapelle fasziniert mich“, sagt Stančík. „Sie war einmalig, ein mystischer Ort. Weil sie vernichtet wurde, ist sie heute ein Geheimnis. Niemand weiß, wie sie wirklich aussah.“ Alles was man darüber finden kann, hat Stančík in seinem Buch zusammengetragen. Zum Beispiel, dass in der Kapelle die „heilige Lanze“ aufbewahrt wurde, mit der Jesus nach der Kreuzigung durchstochen worden war. An einem eigens dafür eingeführten Feiertag wurde sie zusammen mit anderen Reliquien dem Volk vorgeführt.
Demnächst wird ein weiteres historisch inspiriertes Werk von ihm in Prag erscheinen. In dem Psychothriller mit dem Titel „Andělí vejce“ („Engel-Eier“) setzt er sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auseinander.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?