Allzu laute Einsamkeit
Neu im Kino: „Já, Olga Hepnarová“ erzählt die wahre Geschichte einer verzweifelten Außenseiterin
20. 4. 2016 - Text: Franziska Neudert, Foto: DEF
Olga ist ein kauziges Mädchen. Von der Welt fühlt sie sich unverstanden, von den Mitmenschen verraten, ihre Familie verabscheut sie. Hölzern bewegt sie sich durch die Welt, den Blick meist gesenkt. Sie sei ein zerstörter Mensch, sagt sie. Ein von den Menschen zerstörter Mensch und zur Einsamkeit verdammt. Ihre Einsamkeit treibt sie schließlich zu einer unfassbaren Tat.
Olga Hepnarová war 22 Jahre alt, als sie zum Tode verurteilt wurde. Im Juli 1973 war sie mit einem Lastwagen am Prager Strossmayer-Platz in eine Gruppe von Passanten gefahren. Acht Personen starben dabei, zwölf wurden zum Teil schwer verletzt. In ihrem Bekennerschreiben gestand sie: „Das ist mein Urteil: Ich, Olga Hepnarová, Opfer eurer Bestialität, verurteile euch zum Tode.“
Olga Hepnarová hat es wirklich gegeben. Die Geschichte der letzten Frau, die in der Tschechoslowakei hingerichtet wurde, erzählen die Regisseure Tomáš Weinreb und Petr Kazda in ihrem Film, der vor kurzem in den Kinos anlief. „Já, Olga Hepnarová“ („Ich, Olga Hepnarová) ist ein Film, der viele Fragen offen lässt. Obwohl sich Weinreb und Kazda eng an die historische Vorlage gehalten und auch wörtlich aus Hepnarovás Abschiedsbrief zitiert haben, bleibt vieles im Dunkeln. Was wurde dieser Frau angetan? Wurde sie missbraucht? Weshalb litt sie so unter ihrer Familie? Und warum fühlte sie sich permanent missverstanden und verstoßen?
Schon als Kind verhält sich Olga anders. Als Tochter einer Ärztin wächst sie in einer wohlsituierten Familie auf. Der Vater ist nicht da; zu ihrer Mutter hat Olga ein distanziertes Verhältnis. Mit ihrer Schwester kann sie nichts anfangen. Und welche Rolle ihr Großvater spielt, bleibt unklar. Am Anfang des Films verschwindet Olga für lange Zeit in einem Zimmer, das er danach verlassen wird. Was darin passiert ist, erfährt der Zuschauer nicht.
Olga ist früh depressiv und will nicht in die Schule gehen. Nach einem Selbstmordversuch wird sie in eine Anstalt eingewiesen. Auch hier gehört Olga nicht dazu, sondern wird von den anderen Mädchen misshandelt.
Später zieht sie gegen den Willen ihrer Mutter in eine spärlich eingerichtete Hütte außerhalb der Stadt. Olga entscheidet sich für eine Ausbildung in einem Kfz-Betrieb, in dem sie schließlich als Fahrerin arbeiten wird. Ein eigenes Auto war schon lange ihr Traum.
Zu ihren Kollegen kann sie keine Beziehung aufbauen. Einzig die schöne Jitka und der ältere Miroslav finden für kurze Zeit Zugang zu ihr. In Jitka verliebt sich Olga. Nachdem sich diese von ihr abwendet, stürzt sich Olga in Affären mit anderen Frauen, die über rein körperliche Kontakte jedoch nicht hinausgehen. Sich selbst nennt sie einen „sexuellen Krüppel“. Einzig Miroslav trifft sie hin und wieder, um mit ihm Bier zu trinken oder einen Ausflug mit dem Trabi zu machen. Er will der depressiven Olga helfen und bringt sie zu einem Freund, der als Psychologe arbeitet. Dieser verweist das Mädchen aber an einen anderen Arzt, da er nicht für ihr Wohngebiet zuständig sei. Als Miroslav sein Auto verkaufen will, nehmen die Dinge ihren unheilvollen Lauf. Olga schiebt das Fahrzeug einen Waldhang hinunter und plant ihre verzweifelte Tat.
Der Schwarz-Weiß-Film spiegelt eine bedrückend graue Gesellschaft wider, die Olga nicht auffangen kann. Wie viel Verantwortung tragen die anderen für das Unglück eines Einzelnen? Die polnische Schauspielerin Michalina Olszańska verkörpert Olga mit beinahe unheimlicher Eindringlichkeit. Sie spielt die kettenrauchende Außenseiterin, die wie ein junger Mann durch die Straßen schlackst. Sie wirkt verletzlich wie ein Schmetterling, bleibt durch ihre abweisende und linkische Art dennoch unnahbar. So richtig sympathisch kann Olga dem Zuschauer nicht werden. Er kann sie aber auch nicht verurteilen.
Im Gerichtssaal zeigt Olga keine Reue, will auch nicht ihre psychologische Erkrankung vorschieben – tatsächlich gibt es sogar Indizien dafür, dass Olga an Schizophrenie erkrankt ist. Die Tat sei die einzig mögliche Konsequenz gewesen, meint Olga vor Gericht. Und die Rache dafür, dass sie jahrelang für alle der Prügelknabe war. „Ich habe die Wahl, mich zu töten oder andere. Ich wähle die Rache an denen, die mich hassen. Es wäre zu einfach, diese Welt als unbekannte Selbstmörderin zu verlassen“, sagt sie. Und hofft darauf, dass eines Tages alle Prügelknaben dieser Welt aufbegehren.
Zwei Jahre wird Olga noch in einer Zelle verbringen. Als sie von den Wärtern zur Hinrichtung abgeholt wird, bricht sie zusammen. Sie will nicht sterben. Am Ende des Films ist der hängende Körper Olgas zu sehen. Ein letzter Schnitt. Ihre Familie sitzt am Esstisch und löffelt seelenruhig ihre Suppe.
Der Film läuft derzeit mit englischen Untertiteln in den Prager Kinos Aero und Světozor, im Mai außerdem im Lucerna.
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