Das Jahr des Kaisers
Es sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass Karl IV. nicht nur böhmischer König war, sondern auch – und das in erster Linie – Kaiser des Heiligen Römischen Reiches
11. 5. 2016 - Text: František Šmahel, Titelbild: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (Ausschnitt)
Was wäre die Historie ohne Histörchen? In Avignon im Palast des Kardinals Pierre Roger (auch: Peter von Fécamp), dem geistlichen Ratgeber des heranwachsenden Karls IV., kam es zu einer Unterredung, die in die Biographien beider Männer einging. „Du wirst einmal römischer Kaiser sein“, prophezeite der Kardinal dem jungen Karl, der ihm schlagfertig erwiderte: „Und du wirst noch früher Papst werden.“ Beides ging in Erfüllung. 700 Jahre werden am 14. Mai 2016 seit der Geburt des Kaisers und böhmischen Königs Karl IV. vergangen sein.
Obwohl Karl IV. als direkter Nachkomme zweier königlicher Dynastien geboren wurde, erlebte er keine freudvolle Kindheit. Erst am französischen Königshof erhielt er die ihm gebührende Erziehung, aber auch einen neuen Namen. Aus dem als Wenzel (Václav) Getauften wurde mit der Annahme des Namens des berühmten Kaisers Karl des Großen ein Karl. Sein Vater, der böhmische König und luxemburgische Graf Johann (Jan), beauftragte ihn mit verantwortungsvollen Aufgaben in Norditalien, in Tirol und vor allem in Böhmen, wobei er stets darauf achtete, dass Karl ihm nicht über den Kopf wuchs. Karl erwies sich als Markgraf von Mähren und Stellvertreter des Königs in höchsten Graden erfolgreich, mit zunehmendem Alter ertrug er jedoch immer weniger das selbstsüchtige Vorgehen des Vaters. Im eigenen Interesse wie dem der gesamten Dynastie blieb ihm aber nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen.
Johann von Luxemburg war ein glänzender Vertreter des sich dem Ende zuneigenden Ritterzeitalters. Vielen böhmischen Zeitgenossen und späteren Historikern gefiel es nicht, dass er nur dann nach Böhmen kam, wenn er Geld für seine ritterlichen Abenteuer brauchte. Man vergisst dabei, dass er den dynastischen Besitzstand, den er seinem Sohn Karl vermachte, um 13 schlesische Fürstentümer, um die Ober- und Niederlausitz und nicht zuletzt um das Egerland erweiterte. Ebenso war die Erhöhung des Prager Bistums zum Erzbistum Ergebnis seiner Politik. Sein Sohn stand ihm bei alledem zur Seite und war auch gut darüber informiert, dass sein Vater gemeinsam mit Papst Klemens VI. eine Kampagne vorbereitete, Karl, mittlerweile Markgraf von Mähren, nach der Exkommunikation und Absetzung des Kaisers Ludwig des Bayern auf den römischen Thron zu setzen. Wir sollten Karl alles zubilligen, was ihm gebührt, aber dabei nicht die Verdienste anderer vergessen.
König in Böhmen, Gegenkönig im Reich
Der 30-jährige Karl wurde binnen zwei Monaten im Sommer 1346 fast gleichzeitig römisch-deutscher König und König von Böhmen. Während er auf den römischen Thron durch eine Wahl gelangte, hatte ihn der böhmische Landtag schon am 11. Juni 1341 als Nachfolger seines Vaters angenommen. Mit der Wahl Karls erhielt das Römische Reich zwei Häupter. Obgleich auf ihn die Stimmen von fünf der das Wahlrecht innehabenden sieben Kurfürsten des Reiches entfielen, musste er sich die faktische Macht erkämpfen.
Auf die Nachfolgerschaft Karls im Reich reagierte das gelehrte Umfeld des Münchener Hofes des abgesetzten Kaisers Ludwig unverzüglich. Auch der berühmte Gelehrte Wilhelm von Ockham griff zur Feder, hielt Karl mit scharfen Worten Nachgiebigkeit gegenüber Papst Klemens VI. vor und schwärzte ihn mit dem Spottnamen „Pfaffenkönig“ an, der ihm dann lange Zeit anhing. Die Mühe, die Karl auf seine faktische Anerkennung im Reich verwenden musste, ließ ihm nicht allzu viel Zeit für die Reformen des Staatswesens, und noch weniger für deren theoretische Begründung. Beide Krönungen Karls erfolgten rasch nach seiner Wahl zum römisch-deutschen König, deshalb konnte er nur geringfügige Änderungen an den alten Krönungsordnungen vornehmen.
Mit seiner Wahl und folgenden Krönung erlangte Karl die Herrschaft nur über das sogenannte Reichsgut, das zunächst aus den Gütern und Rechten bestand, über die der mittelalterliche König oder Kaiser unmittelbar verfügen konnte, zu dem im weiteren Sinne aber auch die Lehens- und Kirchengüter des Reichs gerechnet wurden. Karl war nicht Eigentümer der Reichsgüter, sondern bloß ihr Verwalter und soweit möglich auch ihr Mehrer, was sich in seinem Titel „Mehrer des Reichs“ niederschlug.
Der König übte die Oberherrschaft mittels der Lehensverhältnisse zu den Reichsfürsten und anderen Freien aus. Die Anzahl der Reichsfürsten schwankte; Mitte des 13. Jahrhunderts gab es ungefähr 90 Reichsfürsten geistlichen Standes und nur zwölf weltliche. Unter ihnen nahmen die sogenannten Kurfürsten eine Sonderstellung hinsichtlich der Machtposition ein; sie beanspruchten seit dem Ende des 12. Jahrhunderts das Recht der Wahl und der Absetzung der römischen Könige. Die erste Stimme in diesem Kollegium stand dem König von Böhmen zu, zunächst faktisch und später auch kraft der Reichsverfassung, der Goldenen Bulle Karls IV.
Drei weitere weltliche Kurfürsten waren der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg. Unter den drei geistlichen Kurfürsten nahm der Trierer Erzbischof den Vorrang ein; ihm zur Seite standen die Erzbischöfe von Köln und Mainz.
Karls Leitidee vom böhmischen Staat
In den Frühlingsmonaten 1348 wurde Prag zum Schauplatz von Karls geschichtsträchtigen Gründeraktivitäten zum Wohle der Metropole, des böhmischen Königreiches und sämtlicher Länder der Böhmischen Krone. Mit einem Privileg vom 8. März gründete Karl die Prager Neustadt, am 7. April folgte die Gründung der Prager Universität, der ersten westlich von Paris und nördlich der Alpen. Das gleiche Datum des 7. April tragen weitere dreizehn Urkunden und Bullen, in denen Karl zum einen die Vorrechte der böhmischen Könige bestätigte, zum anderen die Beziehungen zwischen den einzelnen Ländern der Böhmischen Krone regelte.
Im Bemühen, einem verengten Begriff der königlichen Macht und ihrer unmittelbaren Bindung an die Person des Herrschers zu wehren, überwölbte er die Ambitionen seiner Dynastie mit einer neuen Konzeption des Staates. Diese brachte er in der Unterscheidung der Person des Königs von der überpersönlichen Institution der Krone des böhmischen Königreiches zum Ausdruck. Mit der Einführung dieser Institution schuf Karl gleichzeitig die staatsrechtliche Grundlage des Verbunds der Länder, Lehen und Güter, die sowohl von der Person des böhmischen Königs als auch von der Böhmischen Krone abhingen.
Obwohl Karl damit auf die Schwächung des Machtstrebens der adligen Landesgemeinde zielte, protestierte der böhmische Adel nicht gegen die neue Konzeption. Doch umso entschiedener verwarf er im Oktober 1355 den Entwurf eines neuen Gesetzeswerks (der sogenannten Majestas Carolina), das den Adel durch kodifiziertes Recht binden sollte. Doch die böhmischen Herren wollten sich nicht einmal Karl IV. über den Kopf wachsen lassen, und zwar entsprechend ihrem alten Grundsatz, dass der König bei ihnen nur der Erste unter Gleichen ist. Karl hat daraus seine Lehre gezogen. Den böhmischen Herren und der adligen Landesgemeinde beließ er deren Vorrechte und durch den Respekt gegenüber ihrer Machtstellung sicherte er dem eigenen Königreich langfristigen Frieden und Wohlstand.
Was Karl in Böhmen nicht gelang, erwies sich im Reich schon eher als machbar. Noch vor der Eröffnung des Reichtags, der Ende 1355 nach Nürnberg einberufen worden war, schloss Karl IV., nun schon als römischer Kaiser, eine Reihe von einzelnen Übereinkünften ab, die zum einen endlich die Aussöhnung mit einigen Reichsfürsten besiegelten und zum anderen die eigentlichen Verhandlungen über das vorgeschlagene Reichsgesetzbuch erleichterten. Die einzelnen Kapitel wurden nach und nach während der Weihnachtsfeiertage beraten. Weil der Kaiser bei den Verhandlungen bereit war, mit den Teilnehmern des Reichstags Kompromisse einzugehen, konnte das Gesetzeswerk schon am 10. Januar 1356 feierlich verkündet werden, das man später als Goldene Bulle bezeichnete.
Dem Kaiser war es ganz besonders wichtig, die Stellung der weltlichen Kurfürsten genauer zu bestimmen und anschließend alle Modalitäten der Wahl des römischen Königs so präzise wie möglich festzulegen. Beides ist ihm gelungen; und weil die Goldene Bulle das päpstliche Recht, die Wahl zu approbieren, stillschweigend überging, handelte es sich unstreitig um einen seiner großen außenpolitischen Erfolge.
Schon in der Einleitung des Gesetzbuches wurde die außerordentliche Stellung des böhmischen Königs betont, dem der erste Platz unter den weltlichen Kurfürsten und eine führende Position auf den Reichstagen zukam. Das böhmische Königreich erhielt weitere Privilegien, einschließlich der freien Wahl des Herrschers für den Fall, dass das Herrschergeschlecht ohne Nachkommen blieb. Die Goldene Bulle stärkte gleichfalls in bedeutsamer Weise die Stellung der anderen weltlichen Kurfürsten, denen faktisch königliche Rechte zugesprochen wurden. Im Gegensatz dazu reisten die Vertreter der Reichs- und der anderen großen Städte enttäuscht aus Nürnberg ab, die auf verstärkte Unterstützung hinsichtlich der Sicherheit der Straßen und des Handels gehofft hatten. Die Goldene Bulle verbot ausdrücklich Städtebunde und änderte nichts an den unverhältnismäßig hohen Zoll- und anderen Gebühren. Wie bei Karl üblich, wandte er den Mächtigen nicht den Rücken zu. So erhielten die drei bedeutendsten Reichsstädte in einem der zusätzlichen Kapitel der Goldenen Bulle ein Sonderstatut. In Frankfurt sollte der König auch fortan gewählt werden, in Aachen sollte seine Krönung stattfinden und in Nürnberg sollte er seinen ersten Hoftag abhalten.
Dunkle Schatten der Herrschaft
Karl IV. war nicht nur als Mensch, sondern auch als Herrscher ein Kind seiner Zeit. Schon seit längerem nimmt man ihm übel, dass es gerade in der Zeit seiner Regierung Böhmens in verschiedenen Teilen des Landes zur mitleidslosen Ausrottung der Waldenser und anderer Ketzer gekommen ist. Allein in den Jahren 1335 bis 1353 wurden etwa 4.000 Menschen vor die Inquisition geschleppt, von denen ungefähr jeder 20. auf dem Scheiterhaufen endete. Karl ließ seinen scharfen Kurs gegen die heimischen Ketzer unter anderem im Entwurf seines Landesgesetzbuchs erkennen. Selbst wenn sich Karls Einstellung gegen Ketzer und Andersgläubige aus unterschiedlichem Blickwinkel beurteilen lässt, so bleibt es doch eine dunkle Seite seiner Herrschaft, dass Häresie für ihn nicht nur eine öffentliche Sünde bedeutete, sondern darüber hinaus auch als Verbrechen der Majestätsbeleidigung. Dazu ist hinzuzufügen, dass Karls hartes Vorgehen gegen Ketzer zur Politik jener Zeit zählte, die auch seine anderen Zeitgenossen mit königlichem Zepter in der Hand teilten.
Eine andere finstere Seite von Karls Herrschaft ist seine Einstellung gegenüber den Juden, insbesondere während der Pandemie der Schwarzen Pest in den Jahren 1348 bis 1350. Dabei bezeichnete Karl die Juden in seinen persönlichen Erklärungen als seine „lieben Kammerknechte“, sprach über die Notwendigkeit ihres Schutzes und gelegentlich verteidigte er sie sogar gegen böswillige Bezichtigungen. Die Juden gehörten schlicht zu den einträglichen Bestandteilen seiner sogenannten königlichen Regalien, ähnlich wie die Münzprägung. Und trotzdem hat er ihnen in seiner praktischen Politik seinen Schutz nicht immer gewährt. Die entsetzliche Ausrottung der in Frankfurt ortsansässigen Juden, zu der es kurz nach seinem Aufenthalt dort im Juli 1349 kam, konnte Karl nicht verhindern. Während er die böhmischen Länder mehr oder weniger vor Pogromen zu schützen vermochte, ist die Situation in Nürnberg oder in anderen Reichsstädten seinen Händen entglitten. In der Zeit, als Scharen von fanatischen Flagellanten durch Europa zogen, stand es nicht in seiner Macht, der Ermordung von Juden Einhalt zu gebieten. Aber wie soll man seine Urkunden bewerten, in denen er das Eigentum der Opfer künftiger Pogrome denjenigen Bischöfen und Herren zuteilte, um deren Gunst er sich bemühte? Einige seiner Schritte auf dem politischen Kampfplatz hatten mit der christlichen Moral nichts gemein, doch gab er wenigstens ein anderes Beispiel durch seine private Bußfertigkeit und öffentlich demonstrierte Frömmigkeit. An seinem Glauben muss man keine Zweifel hegen, aber dazu gehörte offenbar auch das einfältige Kalkül vom Loskaufen der Sünden auf der Erde.
Menschen an seiner Seite
Ohne Hof gäbe es keinen Herrscher. Nicht zufällig erloschen mit dem Tod des römischen Königs und Kaisers auch alle seine „Staatsämter“, mit dem Zerbrechen des Siegels endete sodann die Tätigkeit seiner Kanzlei. Karl IV. nahm, wie wir bereits wissen, den römischen Thron als Gegenkönig ein, so dass er sein Verwaltungssystem von Grund auf neu einrichten musste. Manchmal bleibt einem der Verstand stehen, wenn man sieht, welch immense Herrschaftsaufgaben Karl bewältigen musste. Dabei müssen wir uns von Anfang an dessen bewusst sein, dass er nur dort herrschte, wo er sich gerade aufhielt. Ein römischer König, der nicht dauernd auf Reisen war, verlor den Grund unter seinen Füßen. Es existierte keine Metropole des Reiches im heutigen Wortsinne, auch Prag war nur eine der Residenzen der Luxemburger Dynastie. Der Hof mit allen Ämtern und vor allem der Kanzlei war stets mit dem König oder Kaiser auf Reisen.
Die Gründung der Prager Universität im April 1348 blieb zunächst einige Jahre bloße Absicht; damit war es fast ausgeschlossen, dass sich die ersten Professoren der Universität an den Entwürfen von Karls politischen Vorhaben beteiligen konnten. Zudem ist anzumerken, dass es bislang nicht gelungen ist, den persönlichen Anteil der Juristen und kirchlichen Würdenträger, die Karl zur Seite standen, überzeugend zu bestimmen. Für den ersten Abschnitt von Karls Regierungszeit wird allgemein die einflussreiche Stellung des Erzbischofs Ernst von Pardubitz (Arnošt z Pardubic; gestorben 1364) anerkannt, der seine Ausbildung in Italien vollendete. Mit Karl vielleicht noch enger verbunden war sein langjähriger Protonotar und Kanzler Johannes von Neumarkt, der bis zum Jahre 1374 an der Spitze der für die böhmischen Kronländer und das Reich gemeinsamen Kanzlei stand.
Karl IV. ragte als gebildeter König (rex litteratus) aus dem Kreis der Herrscher des Hoch- und Spätmittelalters mit seiner natürlichen Begabung, außergewöhnlichen Bildung, der Kenntnis verschiedener Länder und nicht zuletzt seiner aktiven Beherrschung mehrerer Sprachen einschließlich des Lateinischen heraus. Obwohl er selbst die Universität nicht besucht hat, befähigte ihn sein Latein sowohl zum Diktat von Urkunden als auch zur Niederschrift seiner Autobiographie, eines gänzlich einzigartigen Werkes nicht nur im 14., sondern auch noch im 15. Jahrhundert. Schon mit dem ersten kleinen Werk Karls, nämlich den Anleitungen zur Liturgie der Ehrung der Heiligen Lanze und anderer Reichskleinodien, trat der Vorrang der religiös-theologischen Betrachtung der Dinge und des Geschehens in der irdischen Welt zutage. Karl war von Jugend auf überzeugt vom unmittelbaren Einwirken Gottes in das diesseitige Geschehen und in Übereinstimmung damit fügte er die eigene Person in die wundertätige Sphäre der höheren Macht ein.
Nahezu alles, was er für nötig hielt, in seinem eigenen Lebenslauf aufzuzeichnen, legte er entweder als eigene Vorbestimmung für höchste Ziele aus oder als eine ungewöhnliche Beschenkung mit intellektuellen Fähigkeiten. Die ersten fünfzehn Kapitel der „Vita Caroli“ schrieb Karl mit hoher Wahrscheinlichkeit während einer schweren Nervenerkrankung, die ihn im Herbst des Jahres 1350 heimsuchte. Die geradezu wundersame Heilung bestärkte ihn nur in seinem Glauben an sein Auserwähltsein. Nicht weniger aufrichtig glaubte er daran, Gott offenbare seine Macht durch die heilbringende Vermittlung der Reliquien und durch äußere Formalitäten der liturgischen Kulte. Von Kind an ging er regelmäßig zur Messe und war bestrebt, so oft wie möglich die heilige Kommunion zu empfangen. Die erste Rolle unter den Heiligen, die er am meisten verehrte, spielte Karl der Große, dessen Kult er in die sakral-mystischen Elemente der eigenen Herrschaftsordnung einbezog.
Die angedeuteten religiösen und theologischen Vorstellungen scheinen die Auffassung zu unterstützen, Karl IV. sei um eine gewisse Form einer staatlichen Theologie bemüht gewesen. Bemerkenswert hierbei ist, dass auch die Appelle, die aus den Kreisen der italienischen Humanisten an Karl als den kommenden römischen Kaiser gerichtet wurden, vom realpolitischen Denken weit entfernt waren. Das gilt vor allem für den Dichter Francesco Petrarca (1304–1374) und den Volkstribun von Rom Cola di Rienzo (1313–1354). Obgleich Karl seine Person zielbewusst in einen mythischen Dunst von halb sakraler Natur hüllte, richtete er sich in seiner praktischen Politik nach Nützlichkeitserwägungen. In seiner eigenen Lebensbeschreibung zögerte er zum Beispiel nicht, die Mehrheit der böhmischen Herren als Tyrannen zu bezeichnen, während er sich selbst als Verfechter der Gerechtigkeit und Vorbild aller Guten bezeichnete.
Das politische Vermächtnis
Die Wahl des Sohnes Wenzel zum römischen König im Juni 1376, die beginnenden Unstimmigkeiten zwischen den Söhnen des 1375 verstorbenen mährischen Markgrafen Johann Heinrich von Luxemburg (Jan Jindřich, jüngerer Bruder Karls IV.), das Bemühen der kaiserlichen Gemahlin Elisabeth von Pommern, ihre beiden Söhne Sigismund und Johann abzusichern, und mehr noch der sich verschlechternde Gesundheitszustand drängten Karl dazu, sich über ein politisches Testament Gedanken zu machen.
Das erste Testament veröffentlichte Karl am 21. Dezember 1376. Das zweite, herausgegeben in Tangermünde am 18. Oktober 1377, präzisierte mehr oder weniger nur die Grenzen einiger Gebiete. Im Grundsatz ging es um eine Nachfolgeregelung im königlichen Zweig der Luxemburger Dynastie, wobei erwartungsgemäß der erstrangige Platz dem römischen und böhmischen König Wenzel IV. zufiel. Außer dem eigentlichen Königreich Böhmen sollte Wenzel nach Karls Tod die schlesischen Besitzungen zur unmittelbaren Verwaltung erhalten, ferner die Niederlausitz, das Bautzener Land und das von seiner Mutter Anna von Schweidnitz, der dritten Gemahlin Karls, geerbte Herzogtum Schweidnitz-Jauer. Als Lehnsherr sollte er über das Markgrafentum Mähren, das Bistum Olmütz, das Herzogtum Troppau (Opava) und über die anderen schlesischen Fürstentümer herrschen. Zudem wurde er Lehnsherr über das neu gebildete Herzogtum Görlitz, das der jüngste Sohn Johann erbte. Der zweitgeborene Sohn Sigismund wurde als Markgraf zum Erben von Brandenburg eingesetzt. Im Testament war außerdem genau festgelegt, wem die böhmische Krone beim Ableben einer der direkten Erben zufallen und unter welchen Umständen das geschehen soll.
Wem gehört der „Vater des Vaterlandes“?
Kaiser Karl IV. wird von den böhmischen Katholiken in besonderem Maße verehrt. Von den mährischen allerdings auch, zumal er doch in seiner Jugend ihr Markgraf war. Es ist nicht verwunderlich, dass dem so ist, denn gerade durch Karls Zutun blühte die böhmische Kirchenprovinz auf und fing Prag an, durch die Vielzahl seiner Gotteshäuser Rom ähnlich zu werden. Erstaunlicherweise schätzen die bayerischen Katholiken ihren Kaiser Ludwig (ca. 1282–1347) nicht weniger hoch. Zwar wurde dieser als Rebell und Häretiker abgesetzt, aber das hinderte den Bischof von Regensburg nicht, im Mai 2014 in der dortigen Kathedrale bei der Eröffnung einer prächtigen Ausstellung zum 700. Jubiläum von Ludwigs Königswahl eine Ansprache voller Verständnis und Lobpreis zu halten. So muss es sein. Ludwig war immerhin ein Bayer, und wer würde nicht irgendwann einmal sündigen?
War jedoch Karl IV. ein Tscheche? In den Zeiten, als man Jan Hus nicht hochleben lassen durfte, galt eben Kaiser Karl IV. als bedeutendster und größter Mann. Im Gegensatz dazu haben die national erweckten tschechischen Gebildeten den „Vater des Vaterlandes“ keineswegs besonders verherrlicht, was mehr oder weniger auch für die tschechischen Musiker und bildenden Künstler gilt. Des Kaisers Gestalt schaute Jahrhunderte vom Altstädter Brückenturm auf die Prager herunter, so dass man keine Notwendigkeit verspürte, ihm weitere Denkmäler zu bauen. Das bestätigt auch die Vorgeschichte des einzigen Denkmals Karls IV. aus dem ganzen 19. Jahrhundert, dessen Enthüllung auf dem Kreuzherrenplatz im Jahre 1848 vom Revolutionsdonner übertönt wurde.
Deutsche Historiker, die in Böhmen zu Hause waren oder dort wirkten, hoben in ihrer Mehrheit die Rolle Karls IV. zwar nicht besonders hervor, aber andererseits spielten sie diese auch nicht herunter. An den 500. Jahrestag von Karls Tod im Jahre 1878 erinnerten mehr Tschechen als Deutsche in Böhmen. Aus den Schriften und Editionen, die aus diesem Anlass erschienen sind, erzielte nur das schmale Bändchen des Universitätsprofessors Josef Kalousek mit dem bezeichnenden Titel „Karel IV., Otec vlasti“ (Karl IV., Vater des Vaterlandes) ein größeres Echo. Die Gründe dafür waren zum einen dessen apologetische Tendenz, zum anderen eine Reihe aktueller vaterländisch gefärbter Anspielungen. Eine besonders sensible Frage berührte er mit der Betonung, die er auf Karls Liebe zur tschechischen Sprache und auf dessen unverfälscht tschechisch-nationales Empfinden legte. Karl verhielt sich auch in dieser Hinsicht pragmatisch und den jeweiligen Umständen entsprechend. Grundsätzlich sah er sich als Bewohner des Königreichs („Bohemus“) mit einer Krone auf dem Haupt, keineswegs als ein reiner Tscheche.
Das damalige Jubiläum gipfelte entsprechend dem Datum von Karls Ableben (29.11.1378) Ende November/Anfang Dezember 1878. Während es von tschechischer Seite jeder Historiker, Schriftsteller und Amtsträger als seine Pflicht betrachtete, zum Jubiläum beizutragen, war der Widerhall auf deutscher Seite verhältnismäßig schwach. Und als am 29. November bei der feierlichen Kranzniederlegung am Karlsdenkmal die einen auf den Schleifen „den Gründer der Tschechischen Universität“ ehrten und die anderen „den Gründer der ersten deutschen Universität“, brachten nur die tschechischen Studenten ein stürmisches Hoch auf den großen Luxemburger aus, während ihre deutschen Kommilitonen der Kneipe den Vorzug gaben. Der Wettstreit um die nationale Zugehörigkeit Karls endete ohne Sieger. Im weiteren Zeitablauf – und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg – war es in erster Linie die deutsche Geschichtsschreibung, die in der Erforschung der Persönlichkeit und Zeit Karls IV. herausragende Fortschritte erzielte. Die Tschechen hatten sich im 19. Jahrhundert ihren Vater nicht nehmen lassen, und das reichte ihnen.
Der Glanz von Karls König- und Kaisertum strahlt im Jubiläumsjahr 2016 mehr als sonst. Großartige Ausstellungen der bildenden Kunst und kirchlicher Schätze aus Karls Ära bleiben nicht hinter den monumentalen Ausstellungen der letzten Jahre zurück. Für viele werden es unvergessliche Erlebnisse sein. Wir sollten aber nicht aus dem Blick verlieren, dass die Historie, wie sie durch das Prisma schöner Madonnen und der Kapelle des Heiligen Wenzel in der Prager Kathedrale erscheint, nur einen Teil der Geschichte Karls IV. und seiner Zeit wiederspiegelt.
Der Artikel erschien zunächst auf Tschechisch in der Tageszeitung „Lidové noviny“ vom 2. Januar 2016. Übersetzung: Josef Füllenbach
Über den Autor
František Šmahel, 1934 im ostböhmischen Marktflecken Trhová Kamenice geboren, gilt als einer der führenden Mediävisten in Tschechien. Nachdem er unter kommunistischer Herrschaft lange Jahre im Abseits verbringen musste, darunter fünf Jahre als Straßenbahnfahrer, konnte er nach 1989 seine Begabung als Hochschullehrer und Forscher voll entfalten. Schwerpunkt seiner Forschungen ist das Spätmittelalter. Sein vierbändiges Werk „Die hussitische Revolution“ wurde auch ins Deutsche übersetzt und in die exklusive Reihe „Monumenta Germaniae Historica“ aufgenommen. Zahlreiche Auszeichnungen belegen die hohe Anerkennung, die er im In- und Ausland erfahren hat (in Deutschland zum Beispiel 1990 den Max-Planck-Forschungspreis).
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