Die Revolution frisst ihre Kinder
Nach 120 Jahren wieder im Nationaltheater: „André Chénier“ erzählt die tragische Geschichte eines Dichters
18. 5. 2016 - Text: Jan Nechanický, Fotos: Patrik Borecký
Die französische Revolution übt auf viele eine ungebrochene Faszination aus. Die jahrhundertealte Ordnung Europas wurde plötzlich auf den Kopf gestellt. Die Menschen fanden sich in einer Welt wieder, in der alles möglich schien. Und das nicht nur im positiven Sinne. Von dieser verkehrten Welt und davon wie die Liebe in ihr aussah, erzählt der italienische Komponist Umberto Giordano (1867–1948) in seiner wohl erfolgreichsten Oper „André Chénier“.
Als Vorbild für das Bühnenwerk diente Giordano das Leben des gleichnamigen französischen Dichters. Der Anhänger einer gemäßigten Partei und Kritiker Robespierres wurde 1794 durch die Guillotine hingerichtet. Er war gerade einmal 31 Jahre alt.
Giordanos Erfolgsstück wurde 1896 in der Mailänder Scala uraufgeführt. Bereits ein Jahr darauf konnten die Prager das anspruchsvolle Werk anschauen. Seitdem stand die Oper nicht mehr auf dem Spielplan. Nun führt das Nationaltheater „André Chénier“ erneut auf.
Gemeinsam in den Tod
Mit dem Libretto verfasste Luigi Illica – der später unter anderem als Librettist für Puccini wirkte – eine tragische und fiktive Liebesgeschichte. Sie versetzt den Zuschauer in die Zeit am Vorabend der französischen Revolution. In einem Schloss wird ein großes Fest gefeiert. Der Diener des Hauses Charles Gérard liebt heimlich Madeleine, die Tochter des Grafen. Der ihm verhassten Aristokratie prophezeit er ein baldiges Ende. André Chénier, ebenfalls zu Gast, trägt ein Gedicht vor, in dem er die Leichtlebigkeit des Adels und der Kirche kritisiert – „Un dì all’azzuro spazio“ ist zugleich eine der schönsten Arien der Oper.
Fünf Jahre später, im zweiten Akt, hat die Revolution ihren Höhepunkt erreicht. Robespierre hat die Macht an sich gerissen; es herrscht eine Atmosphäre der Angst. Auch Cheniér muss um sein Leben fürchten. Trotz Warnungen will er Paris nicht verlassen – die Briefe einer Unbekannten lassen ihn auf die große Liebe hoffen.
Gérard ist inzwischen zum Mitglied des Revolutionsrates aufgestiegen und sucht vergeblich nach Madeleine. Währenddessen trifft Chénier die unbekannte Briefeschreiberin, die sich ihm als Madeleine vorstellt und um seine Hilfe bittet. Seine Antwort ist ein Liebesgeständnis. Später kommt es zum Duell zwischen Gérard und Chénier, bei dem der einstige Diener verletzt wird.
Als Gérard im dritten Akt von der Verhaftung Chéniers erfährt, verfasst er eine Klageschrift gegen ihn. Madeleine fleht ihn an, ihrem Geliebten das Leben zu lassen. Sie ist sogar bereit, sich Gérard hinzugeben, wenn er Chénier rettet. Der Liebesbeweis öffnet dem Revolutionär die Augen, er erkennt seine Schuld. Seine Hilfe für Chénier kommt dennoch zu spät, er wird zum Tode verurteilt.
Im vierten Akt verbringt Chénier seine letzten Stunden im Gefängnis, wo er seine Verse vorträgt. Madeleine besticht einen Wärter, um an der Seite ihres Geliebten sterben zu können. Bei Tagesanbruch besteigen sie gemeinsam den Karren zum Schafott.
Realität mit Pathos
Giordano zeichnet die Facetten der Revolution nach, ohne dabei zu verklären: von der Darstellung einer ungerechten Gesellschaftsordnung, die die Revolution auslöste, bis zur brutalen Willkürherrschaft der Jakobiner. Die Oper erweist sich damit als ein typischer Vertreter des italienischen „Verismo“. Vom Naturalismus beeinflusst, bemühte sich diese Stilrichtung um eine schonungslose Darstellung der sozialen Probleme um 1900.
Giordano präsentiert seine Geschichte von der Liebe in den Zeiten der Revolution dennoch in einem musikalisch pathetischen Gewand. Dem Pathos entspricht auch die Gestaltung der Bühne. Regisseur Michal Dočekal und Choreografin Lenka Vagnerová lassen in einzelnen Szenen bis zu 50 Schauspieler auf die Bühne treten. Jeden Akt schmücken große, wirkungsvolle Arrangements – deren langer Umbau zwischendurch jedoch etwas stört. Imposant wirken vor allem die beweglichen Kronleuchter in der ersten Szene und die Totenkopfbilder, die im zweiten Akt die Bühne verdecken. Angesichts der Tanzeinlagen im Hintergrund gerät der Gesang mitunter zur Nebensache. Beeindruckend ist die Szene, in der die Tänzer als Robespierres Spitzel mit ihren Taschenlampen die Pariser Straßen stürmen.
Der Dirigent Petr Kofroň leitet das Orchester mit viel Leidenschaft. Sein Ensemble überzeugt während der ganzen Vorstellung.
Die schauspielerische Leistung der Sänger lässt mitunter zu wünschen übrig. Das gilt vor allem für Hector Sandoval, der André Chénier zwar gesanglich überzeugend wiedergibt, ihn darstellerisch jedoch etwas blass lässt. Petra Alvarez Šimková als Madeleine oder Josef Moravec als Spion beeindrucken sowohl bei Gesang und als auch bei Schauspiel. Mangelhafte Ausnahmen auf der Bühne sind Roman Janál als Gérard, der während der gesamten Inszenierung Probleme mit der Intonation hatte und auch schauspielerisch eher unbeholfen wirkte. David Vaňáč schien als Gefängniswärter Schmidt regelrecht fehl am Platz.
Dem Prager Nationaltheater ist es dennoch gelungen, Giordanos Werk in großem Stil umzusetzen. Wer sich für historische Dramen begeistert und ein Faible für pathetische und ausdrucksvolle Musik hat, wird seine Freude haben.
André Chénier. Italienisch mit tschechischen und englischen Übertiteln, Národní divadlo, nächste Aufführungen: 27. Mai & 7. Juni, Eintritt: 150–1.100 CZK, www.narodni-divadlo.cz
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