Wohlbehütet oder ausgegrenzt?
An tschechischen Regelschulen sollen mehr Kinder mit Behinderung unterrichtet werden. Doch Sonderpädagogen protestieren gegen die Inklusion
8. 6. 2016 - Text: Jana WagnerText: Jana Wagner; Foto: APZ
Gerade einmal zehn Schüler sitzen im sonnendurchfluteten, bunt dekorierten Klassenzimmer. Der Mathematikunterricht findet heute in Gruppenarbeit statt. Die Lehrerin erklärt mit ruhiger Stimme, wendet sich einzelnen Schülern zu und auch dort, wo sie gerade nicht hinschaut, wird konzentriert gearbeitet.
Die Prager Grund- und Mittelschule Vinohradská ist eine Einrichtung für Kinder mit besonderem Förderbedarf – und vielleicht ein Auslaufmodell. Die rund 130 Mädchen und Jungen, die hier zur Schule gehen, haben eine Lernbehinderung oder eine leichte geistige Behinderung. Schüler ohne besonderen Förderbedarf oder „intakte Kinder“, wie sie Schulleiter Stanislav Drbout bisweilen nennt, besuchen die Schule nicht. „Ja, es ist Segregation, was wir hier machen“, sagt der überzeugte Sonderschullehrer, „aber Segregation zum Wohle der Kinder“. Mit dieser Einstellung fühlt er sich derzeit in der schulpolitischen Debatte allerdings als rückständig oder gar als „Kinderfeind“ verpönt.
Etwa 70 Prozent der tschechischen Schüler mit gesundheitlicher Einschränkung besuchen reguläre Grundschulen. Bei Kindern mit leichter geistiger Behinderung sieht es aber anders aus. Nur rund 1.500 von mehr als 14.000 sind Teil eines gemischten Klassenverbandes, einige Hundert werden in speziellen Klassen an regulären Grundschulen unterrichtet.
Von einer „hundertprozentigen Zwangsintegration“ ist Tschechien weit entfernt. Dennoch geht die Tendenz im Ministerium für Schulwesen, Jugend und Sport klar zur umfangreicheren Inklusion. „Systematisch und intensiv“ solle die Inklusion an den Schulen vorangetrieben werden, heißt es im offiziellen Strategieplan für die tschechische Bildungspolitik bis 2020. Die Pädagogische Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn hat ein Programm entwickelt, um Lehramtsstudenten das notwendige sonderpädagogische Wissen für den Unterricht in Inklusionsklassen zu vermitteln. Das Wahlrecht der Eltern, ihr Kind gegebenenfalls lieber auf eine Schule für Kinder mit Förderbedarf zu schicken, wird auch mit der neuen Gesetzesnovelle nicht angetastet.
Die zwei vom Parlament bereits verabschiedeten Änderungen, die zu Beginn des neuen Schuljahres im September in Kraft treten, haben dennoch eine landesweite Diskussion über den gemeinsamen Unterricht ausgelöst. So initiierte etwa die Boulevard-Zeitung Blesk eine Kampagne gegen „schädliche Inklusion“. Der ehemalige Abteilungsleiter für Sonderschulwesen am Schulministerium, der Sonderpädagoge Martin Odehnal, hat sich im April mit einem offenen Brief an Ministerpräsident Bohuslav Sobotka (ČSSD) gewandt und die Pläne scharf kritisiert. Er gehe nicht davon aus, dass die Schüler im inklusiven Unterricht gleiche Leistungen erzielen und es ihnen ähnlich gut geht, wie das gewöhnlich in Förderschulen der Fall sei.
Das neue Schulgesetz schreibt vor, dass ausnahmslos alle Schulen ausreichende Maßnahmen anbieten müssen, die ein Kind mit Handicap benötigt, um am Unterricht teilzunehmen – und dass sie dafür auch ausreichend Geld bekommen sollen.
Das Recht auf Bildung
Bei Kindern mit leichter geistiger Behinderung wären solche Maßnahmen etwa Schulassistenten. Diese müssen allerdings nicht über einen regulären pädagogischen Abschluss verfügen. Ein gehörloser Schüler wiederum kann einen Gebärdendolmetscher bekommen. Odehnal bezweifelt jedoch die Tauglichkeit der Maßnahme: „Übersetzt ein solcher Dolmetscher dann auch ein Gespräch über Mädchen auf dem Pausenhof?“
Dass es im Regelfall gelingen kann, den Inklusionsunterricht auszuweiten, stellt auch Schulleiter Drbout in Frage. „Häufig ist die Konzentrationsfähigkeit ein Problem. Die Schüler finden sich schlecht in großen Klassen zurecht.“ Im Unterricht für alle sieht er „Gleichmacherei wie zu Zeiten des kommunistischen Regimes“ und hebt die Vorteile sonderpädagogischer Einrichtungen hervor.
Einer davon ist laut Drbout, dass die Schüler bis zu sechs Wochenstunden praktischen Unterricht haben. Sie sollen auf handwerkliche Berufe vorbereitet werden, wo sie die besten Chancen haben, eine Arbeit zu finden. Neben dem Näh- und dem Werkraum verfügt die Schule außerdem über Übungsküche, Wohn- und Kinderzimmer. Dort lernen die Schüler, im Alltag allein zurechtzukommen. „Wir üben zum Beispiel das Wäschewaschen und die sichere Bedienung von Mikrowellen. Kindern ohne Einschränkung würde da schnell langweilig werden“, sagt Drbout.
Hausarbeiten sind nicht das einzige Thema, bei dem er sich skeptisch zeigt, wie das gemeinsame Lernen und Leben gelingen kann. Selbst wenn die Kinder in der Schule beisammen wären, hieße das nicht, dass sie auch in der Freizeit etwas gemeinsam unternähmen, ist er überzeugt. „Wenn ein Kind zum Beispiel ins Kino gehen will, kann sein blinder Mitschüler nicht mitkommen. Wir glauben auch nicht, dass alle sich verstehen können.“
Ob wegen eines generell verfehlten Inklusionsgedankens oder einer mangelnden Umsetzung: Viele Kinder seien schon an seine Schule gewechselt, weil sie an den regulären Grundschulen schlechte Erfahrungen gemacht hätten. Sogar psychosomatische Reaktionen kommen seiner Erfahrung nach als Reaktion auf Stress durch Überforderung und soziale Ausgrenzung vor. Schüler mit leichter geistiger Behinderung hätten dagegen oft ähnliche Interessen und Probleme und verstünden sich besser. Wer mit 14 Jahren im Fernsehen noch Kindersendungen schaue, werde an einer regulären Schule ausgelacht.
Klára Laurenčíková, Vorsitzende der Fachgesellschaft für Inklusive Bildung (ČOSIV), sieht Behinderung dagegen nur als eine mögliche Form der Besonderheit, mit der der Klassenverband einen Umgang finden muss. „Lehrer sollten sich der Tatsache stellen, dass zwei Kinder nie gleich sind und jeder ein anderes Bildungspotenzial hat“, meint sie. In einigen Fällen hält sie es aber für möglich, dass Kinder an Sonderschulen besser aufgehoben sind.
„Am wichtigsten ist es, für jedes Kind ein schulisches Umfeld zu finden, das die beste Entwicklung ermöglicht“, sagt Laurenčíková. „Das Recht der Schüler auf die bestmögliche Bildung muss erfüllt werden“, meint Drbout.
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