Trauma und Mythos
Das Nationaltheater feiert das Ende der Spielzeit mit der Strauss-Oper „Elektra“
15. 6. 2016 - Text: Jan Nechanický, Titelbild: Patrik Borecký, Národní divadlo
Richard Strauss besuchte 1903 in Berlin Max Reinhardts Inszenierung des antiken Dramas „Elektra“. Für das „Kleine Theater unter den Linden“ hatte ein junger Dichter den Stoff bearbeitet. Sein Name war Hugo von Hofmannsthal und schon bei diesem Theaterbesuch erkannte Strauss in ihm seinen späteren Librettisten, mit dem ihn die nächsten 20 Jahre eine enge Zusammenarbeit verbinden sollte.
Hofmannsthals Bühnenwerk ist keine bloße Modernisierung von Sophokles’ Tragödie. Er verzichtet auf die Erzählung vom Trojanischen Krieg und die Vorstellung einzelner Figuren. Genauso ist es ihm unwichtig, Agamemnons Ermordung als die Konsequenz eines uralten Fluchs zu erklären. Die Kenntnis antiker Realien konnte Hofmannsthal bei seinem Publikum voraussetzen. Der Stoff diente ihm als Gerüst, auf dem er sein eigenes Thema entwickelte. In erster Linie wollte er eine neurotische Vaterliebe thematisieren, die er in der Figur Elektras verkörpert sah. Sein Drama sowie Strauss’ Oper entstanden in der Zeit, in der Sigmund Freuds Psychoanalyse auf dem Vormarsch war. Beide erzählten die Geschichte einer zutiefst verletzten und traumatisierten Frau, die sich nach der Erlösung von ihrem Trauma nur durch eine blutige Rache zu helfen weiß.
Der britische Regisseur Keith Warner, der die Prager Neuaufführung inszeniert hat, schlägt eine Brücke zwischen der antiken Tragödie, der Interpretation Hofmannsthals und der Gegenwart. Er hat eine psychoanalytische Odyssee entworfen, in der er den Zuschauer auf eine Reise ins Innere eines traumatisierten Menschen mitnimmt.
Die erste Szene spielt in der Gegenwart. Der Zuschauer sieht eine Frau durch ein Museum für antike Kultur wandeln. Die postmoderne Elektra, die sich die altertümlichen Exponate anschaut, liest über die antike Atriden-Tochter und über den „Elektra-Komplex“. Die Artefakte und Informationen, mit denen sie noch nie in Kontakt gekommen ist, rufen Erinnerungen hervor, hinter denen langsam ein altes Trauma zum Vorschein kommt. Der Zuschauer folgt ihr schließlich in ihr Unterbewusstsein.
Weil sie mit den Mythos konfrontiert wird, muss Elektra sich mit der verdrängten Wahrheit auseinandersetzen. Ihre Geschichte wird nun in Gestalt des ursprünglichen Mythos erzählt. Schicht für Schicht enthüllt sich die furchtbare Tragödie.
Warners Auslegung ist ohne Zweifel ein origineller und vielversprechender Versuch, das Potenzial der Oper auszuloten. Ob er aber gelingt, ist eine andere Frage. Dass die Szene allein – das heißt ohne die komplizierte Erklärung – funktionieren würde, ist anzuzweifeln. Das Bühnenbild von Boris Kudlička wirkt an manchen Stellen eher verwirrend. An anderen ist es überdeutlich. So hätte man die Leichtsinnigkeit und Naivität Chrysothemis’ anders als in Form eines pinken Kinderzimmers mit Teddybären darstellen können. Die Küchenszene, in der Klytämnestra ermordet wird, ist wiederum ein gelungener Brückenschlag in die Gegenwart.
Strauss’ Partitur ist eine Herausforderung. Nicht nur von den Sängern und dem Dirigenten, sondern auch von beinahe jedem Orchestermitglied wird voller Einsatz verlangt. Dirigent Roland Böer vermied unnötige Experimente und hielt sich an Strauss’ eigene Anweisungen. Vielleicht führte diese Vorsicht dazu, dass in manchen Szenen die nötige Spannung fehlte.
Überzeugend wirkte die britische Sopranistin Susan Bullock in der Titelrolle, die als einzige dem klanglichen Ansturm des Orchesters durchgängig standhielt. Als erfahrene Strauss-Darstellerin – die Prager Aufführung ist ihre 17. Rolle als Elektra – zeigte sie während der gesamten Inszenierung eine unglaubliche Energie. Schauspielerisch fehlte es Elektra jedoch ein bisschen an Ausdruck. Dafür verlieh die deutsche Sopranistin Anna Gabler der Chrysothemis den richtigen Ausdruck von Leichtsinn und Oberflächlichkeit. Auch Rosalind Plowright als Klytämnestra meisterte die Rolle von Elektras neurotischer Mutter vor allem schauspielerisch hervorragend.
Insgesamt ist an der Inszenierung vor allem ihre originelle Interpretation zu loben, deretwegen sich der Besuch allein schon lohnt. Wenn man die hochklassige internationale Besetzung mit in Betracht zieht, ist der Abschluss der Spielzeit auf jeden Fall zu empfehlen.
Elektra. Státní opera Praha – in Koproduktion mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe und der San Francisco Opera. Regie: Keith Warner, Dirigent: Roland Böer. Deutsch mit tschechischen und englischen Übertiteln, nächste Aufführungen: 18., 22. und 25. Juni. Eintritt: 450–1.490 CZK, www.narodni-divadlo.cz
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