Nach dem Brexit die EU-Reform

Nach dem Brexit die EU-Reform

Staatssekretär Tomáš Prouza über die tschechische Position zu den anstehenden Verhandlungen

26. 7. 2016 - Text: Josef FüllenbachInterview: Josef Füllenbach; Foto: ČTK/Vít Šimánek und Prime Minister’s Office

Nach dem britischen Referendum über den Austritt aus der EU drängen viele der verbleibenden EU-Mitglieder auf baldigen Verhandlungsbeginn mit London. Zudem stehen Reformen der EU mit neuer Dringlichkeit auf der Tagesordnung. Im September werden sich in Bratislava die europäischen Staats- und Regierungschefs der verbleibenden 27 EU-Mitglieder bei einem informellen Treffen ausführlich über die Zukunft der EU nach dem britischen Referendum austauschen. Tschechien will in diesen Debatten eine aktive Rolle spielen und bereitet sich deshalb intensiv auf den Gipfel vor. PZ-Mitarbeiter Josef Füllenbach sprach mit Thomáš Prouza, dem Staatsekretär für europäische Angelegenheiten der tschechischen Regierung, über die tschechische Positionierung und darüber, mit welchen Partnern Prag in diesen Fragen den Schulterschluss sucht.

Die Lage in Großbritannien hat sich nun wider Erwarten rasch geklärt. Die neue Premierministerin Theresa May, die gegen den Brexit war, lässt keinen Zweifel daran, dass sie Großbritannien aus der EU herausführen wird.
Ich denke, sie hat keine andere Chance. 52 Prozent sind ein klares Ergebnis. Mit irgendwelchen Tricks, etwa über eine Parlamentsentscheidung, etwas anderes zu versuchen, würde bei den nächsten Wahlen der Unabhängigkeitspartei UKIP einen erheblichen Stimmenzuwachs bescheren.

Die Schlüsselpositionen für die Austrittsverhandlungen hat Frau May mit Politikern besetzt, die in der Kampagne für den Brexit eingetreten sind. War das eine gute Wahl?
Wir respektieren die Ernennung der neuen britischen Minister; es geht um eine demokratisch gewählte Regierung. Und ich denke, dass es wichtig ist, dass sich auf die Positionen, die für die nun anstehenden Verhandlungen zentral sind (die Ministerien für Äußeres, für den Brexit und für Außenhandel, Anm. d. Red.), Vertreter der Kampagne für den Austritt Großbritanniens aus der EU gelangt sind. Die Premierministerin unterstützte vor dem Referendum den Verbleib des Landes in der Union, aber ein Regierungsteam zu haben, in dem beide Lager vertreten sind, ist eine gute Lösung für die jetzige Situation. Die Verhandlungen mit Großbritannien werden gewiss nicht leicht sein, die Briten sind sehr fähige und harte Verhandler. Doch bin ich davon überzeugt, dass wir in der Lage sein werden, einen für beide Seiten vorteilhaften Kompromiss zu finden. Es geht uns nicht darum, die Briten zu „bestrafen“; uns verbinden eine langjährige Partner  und die gemeinsame Geschichte. Aber wir werden unsere Interessen vertreten müssen und dafür ebenfalls hart verhandeln.

Der rasche Wechsel in Downing Street 10 hat Hoffnungen genährt, dass auch die Austrittsverhandlungen gemäß Artikel 50 des Lissabon-Vertrags von London rasch initiiert werden. Danach sieht es nicht mehr aus, es könnte bis Ende 2016 dauern.
Großbritannien sollte den Prozess nach Artikel 50 möglichst schnell in Gang setzen. Die Ungewissheit ist sehr unangenehm. Das Ergebnis des Referendums liegt vor, doch die Briten bewegen sich nicht. Aber es wird wohl noch eine Weile dauern, denn May steht vor dem gleichen Problem, vor dem jeder in dieser Position stünde – sowohl der ehemalige Premier Cameron als diejenigen, die zunächst mal abgetaucht sind. Die Briten wissen nicht, was genau sie wollen. Und wenn ich das nicht weiß, schiebe ich den Termin hinaus, an dem ich beginnen will zu verhandeln. Die Aktivierung von Artikel 50 sollte aber spätestens im Herbst kommen. Immer noch versprechen die britischen Politiker den Leuten das Blaue vom Himmel. Zum Beispiel hinsichtlich des Zutritts zum freien Markt ohne gleichzeitige Freizügigkeit von Personen. Eine reine Illusion! Entweder gibt es beides oder keines von beidem. Es handelt sich hier um eine Mystifikation der Leute, um mich diplomatisch auszudrücken.

Gibt es im Hintergrund schon Klagen, dass der Artikel 50 eine Fehlkonstruktion ist, denn momentan zwingt er alle zu warten, bis es London gefällt, den nächsten Schritt zu tun?
Ich denke, der Artikel geht schon in Ordnung. Auch in vielen Verfassungen fehlen bisweilen Fristen. Zum Beispiel gibt es in unserer Verfassung eine Frist von einem Monat, bis dahin muss eine neue Regierung im Parlament einen Vertrauensantrag stellen, aber es gibt keine Frist für die Ernennung einer Regierung nach der Wahl des Parlaments. Manchmal braucht man einfach etwas Zeit, und das ist jetzt auch der Fall. Wie mir viele auf britischer Seite bestätigt haben, rechnete eigentlich keiner mit diesem Ausgang des Referendums. Sie konnten sich dabei auf zahlreiche Umfragen stützen. Deshalb arbeitete niemand ein Szenario für diesen Fall aus. Da ist es fair, den Briten ein paar Monate Zeit zu geben. Genauer bis zum Herbst. Sollte es aber bis in den Winter oder gar bis ins Frühjahr 2017 dauern, dann stehen wir vor einem Problem und müssen beraten, wie man die Briten dazu bringen kann, den nächsten Schritt zu tun. Aber ich denke, bis zum Europäischen Rat im Oktober 2016 sind alle bereit zu warten. Falls sie uns jedoch länger hinhalten, dann wird der gute Wille sehr schnell schwinden und die Verärgerung wird wachsen. Nur den Briten wird das schaden, denn umso härter werden die Vereinbarungen sein.

Es scheint, London hat derzeit nicht einmal genug Fachleute für die komplizierte Verhandlungsmaterie. Stimmt das?
So ist es. Das entnehme ich auch aus meinen Gesprächen mit meinen britischen Freunden. Das Team steht nicht, das Verhandlungsmandat ist nicht vorbereitet. Es ist zu verstehen, dass sie den Beginn verschieben wollen. Und nach Auffassung der anderen EU-Länder ist September/Oktober das Zeitlimit, später auf keinen Fall.

Bis zum Abschluss des Austrittsvertrags bleibt Großbritannien Mitglied der EU mit allen Rechten und Pflichten. Kann London nicht wichtige Entscheidungen des Europäischen Rates zur Zukunft der Union durch sein Vetorecht blockieren?
Das schon, aber gegen Ende der zweijährigen Verhandlungszeit werden die 27 verbleibenden Mitglieder stärker sein. Wenn der Austrittsvertrag dann nicht fertig ist und länger verhandelt werden muss, dann gilt, dass eine Verlängerung der Verhandlungen nur durch einstimmigen Beschluss erreicht werden kann. Anderenfalls droht zwingend eine Trennung ohne Vertrag und ohne geregelte Beziehungen zur EU. Das bedeutet, dass nun die Verhandlungspartner die Trümpfe in der Hand halten und Großbritannien zu einem ganz normalen Drittland werden könnte wie zum Beispiel Venezuela. Der Schaden wäre für die britische Wirtschaft immens. Deshalb werden sie keine Blockadepolitik betreiben und die verbleibenden EU-Mitglieder verärgern. Aber sie könnten bei manchen Entscheidungen eine Politik des leeren Stuhls verfolgen wie einst die Franzosen und sich so aus Fragen heraushalten, die sie nicht mehr betreffen werden.

Könnte man sich in diesem Sinne eine Art Gentleman’s Agreement vorstellen?
Ja, genau. Ich glaube, die Briten werden mit Vernunft vorgehen. Sie werden zwar hart, aber im eigenen Interesse konstruktiv verhandeln. Es ist sehr wichtig, dass das Verhältnis mit ihnen funktionieren wird.

Schauen wir einmal auf die künftigen Verhandlungen: Sie haben gesagt, der freie Marktzugang ist für die Briten nur mit freiem Personenverkehr zu haben. Wird es da keine Abstriche geben können?
Es gelten die vier Grundfreiheiten. Wenn wir anfangen, daran zu rütteln, dann nimmt das kein Ende. Das war schon nach dem Referendum zu sehen, als die Dänen meinten, die Abmachungen mit Cameron zu den Sozialleistungen für Migranten aus EU-Ländern seien doch eigentlich eine gute Sache, die man nicht fallen lassen sollte. Deshalb gilt für uns: entweder alle vier Freiheiten oder keine.

Das gilt gewiss für die Verhältnisse innerhalb der EU. Aber ist es auch gegenüber Drittländern, also demnächst gegenüber den Briten, zwingend, den freien Marktzugang mit der Personenfreizügigkeit zu verknüpfen? Kann man nicht die Personenfreizügigkeit auf Gegenseitigkeit einschränken?
Das hängt in erster Linie von den Ambitionen der Briten ab. Was wollen sie? Wollen sie neben Marktzugang, freiem Kapital- und Dienstleistungsverkehr auch frei in der EU arbeiten? Das geht nur reziprok. Und wenn die Briten sich auf Reziprozität in einer Frage – zum Beispiel der Personenfreizügigkeit – nicht einlassen wollen, dann wird das einen Preis haben müssen. Sie könnten etwa entsprechend dem norwegischen Modell für freien Zugang zahlen. Doch kann ich mir nicht vorstellen, dass Frau May sich vor ihr Volk stellt und sagt: Als Folge des Brexit zahlen wir nun mehr nach Brüssel als vorher.

Ihre erste Auslandsreise als Premierministerin führte Theresa May am 20. Juli nach Berlin.

Was werden für Tschechien die wichtigsten Punkte in den Austrittsverhandlungen sein?
Zunächst ist es für uns zentral, dass die Briten in der Verhandlungsphase bis zum Austritt alle Rechte und Pflichten haben, auch hinsichtlich der Personenfreizügigkeit. Da darf es kein vorläufiges Arrangement geben. Wir wollen, dass die Kommission die Einhaltung des Unionsrechts in Großbritannien bis zum letzten Tag der Mitgliedschaft beobachtet. Was die Zukunft angeht, so müssen erst einmal die Briten uns sagen, wie sie sich das Verhältnis vorstellen: Wollen sie ein zweites Norwegen sein oder eher ein zweites Albanien? Oder etwas dazwischen? Sobald wir dazu Genaueres wissen, werden wir unser Mandat für die Verhandlungen formulieren.

Wenden wir uns den Spitzen in Brüssel zu, vor allem Juncker und Schulz: Haben sie gleich nach dem Referendum mit ihrem Drängen, die Integration rasch zu vertiefen – etwa die Eurozone auszuweiten –, nicht unnötig Porzellan zerschlagen?
Menschlich verstehe ich ihre Reaktion. Beide bewegen sich seit Jahrzehnten im Getriebe der EU, betrachten die Union ein wenig als ihr Baby, und jetzt ist die Lage auf einmal so kompliziert. Zudem war das kurz nach dem Votum für den Brexit. Alle waren aufgeregt, die Börsenkurse fielen in London und überall in Europa. In dieser Situation war es notwendig, rasch Stellung zu nehmen, auch wenn nicht alles gut durchdacht war. Wichtig ist jetzt die Debatte über die Zukunft der Union. Der Europäischen Gipfel, der damit beginnen soll, findet im September in Bratislava statt, nicht in Brüssel. Das ist ein wichtiges Signal. Kommission und Parlament müssen viel stärker darauf hören, was die Mitgliedsländer wirklich wollen. Ferner müssen wir die Brüsseler Agenda von unwesentlichen Dingen befreien und uns auf die wichtigen Fragen konzentrieren. Dann kann es auch nicht passieren, dass ein so bedeutender Beschluss wie der gemeinsame Grenzschutz untergeht in einer Debatte über die Regulierung der Emissionen von Rasenmähern. Denn alle, die gerne auf der Union herumtrampeln, sprechen dann nur über die Rasenmäher.

Ihr Außenminister Zaorálek forderte Juncker zum Rücktritt auf, Premier Sobotka bat ihn zu bleiben. Kann denn das Personal, das die EU mit in die Krise geführt hat, geeignet sein, nun die Reform anzuführen?
Wir haben heute schon Probleme genug, da wäre es unglaublich dumm, noch eine institutionelle Krise zu verursachen. Premier Sobotka bestärkte deshalb Juncker, in seinem Amt zu bleiben. Nicht wer an der Spitze der Kommission steht, muss sich ändern, sondern ihre Arbeitsweise, sie muss mehr auf die Mitgliedstaaten hören und nicht mit Macht Dinge durchzusetzen versuchen, die einige ganz klar ablehnen.

Spielen Sie damit auf die Quoten an?
Ja, damit meine ich die Verteilungsquoten für Flüchtlinge, aber auch andere Fälle, etwa die Entsenderichtlinie. Bei der Migrationskrise sind die Quoten nur ein ganz winziger Teil der Problematik. Ansonsten hat die EU die Lage erfolgreich gemeistert, den Deal mit der Türkei abgeschlossen, die Balkantrasse gesperrt. Damit sank die Zahl der Flüchtlinge, die über die Türkei kommen, um 97 Prozent.  Das wäre herauszustellen, stattdessen sprechen wir nur über die Quoten.

Doch gerade hier in Tschechien hört und liest man eher davon, dass uns Erdogan erpresst, nicht von einer tollen Erfolgsgeschichte.
Ich verstehe, dass man mit solchen Sprüchen Stimmung machen, die EU anschwärzen will. Da muss man dagegen setzen. Wenn unser Premier spricht, dann sagt er nie „die in Brüssel und wir“, sondern „wir sind Europa“. Gelegentlich verliert man, aber das darf nicht heißen, dem Mitspieler vors Schienbein zu treten.

Es scheint Mode zu werden, sich in unterschiedlichen Gruppen zu treffen: die sechs Gründungsmitglieder der Gemeinschaft, die Visegrád-Länder mit Deutschland und Frankreich, die Nicht-Gründungsmitglieder usw. Birgt das nicht die Gefahr des Auseinanderdriftens?
Im Gegenteil, es ist gut, die Probleme vor den Gipfeltreffen in kleinerem Kreis zu diskutieren. Was mir wichtig erscheint: Erstmals finden diese Debatten über die imaginären Grenzen – etwa die zwischen Ost-West; Gründungs- und jüngeren Mitgliedern, großen und kleinen hinweg statt . Also Visegrád mit Deutschland und Frankreich. das tschechisch-slowakisch-österreichische Dreieck; Treffen der skandinavischen mit den baltischen Staaten. Deshalb ist auch der deutsch-tschechische strategische Dialog so wichtig. Und deshalb habe ich mit dem deutschen Botschafter im Mai eine Diskussion tschechischer und deutscher „Denkfabriken“ mit einigen wenigen Politikern zum Thema Zukunft Europas organisiert. Je mehr wir miteinander sprechen, umso besser gehen die Dinge voran. Nervös würde ich, wenn sich die sechs Gründungsmitglieder nur unter sich treffen würden und nie mit den anderen. Oder wenn die Visegrád-Länder unter sich blieben. Und das gilt für die Debatte über die Zukunft Europas ganz besonders. Wichtig ist auch: Unsere Vorbereitung auf den Gipfel in Bratislava darf nicht nur innerhalb der Regierung ablaufen; alle politischen Kräfte müssen einbezogen werden. Ob es gelingt, einen tschechischen Konsens zu finden, wie die Zukunft Europas aussehen soll, werden wir sehen.

Gibt es dazu schon Anhaltspunkte aufgrund der ersten Sitzung der Arbeitsgruppe, die von der Regierung zum Brexit gebildet wurde und der Sie vorsitzen?
Die erste Sitzung fand am 14. Juli im Regierungsamt statt. Neben den Ressortvertretern nahmen auch Repräsentanten der Wirtschaft und der Sozialpartner daran teil. Jetzt zielen die Diskussionen auf die Vorbereitung des Septembergipfels in Bratislava und generell auf die Zukunft der EU. Für die Verhandlungen über den Austritt Großbritanniens gilt unsere gemeinsame Position vom Europäischen Rat im Juni in Brüssel: Wir werden erst verhandeln, wenn die Briten ihre Absicht, die Union zu verlassen, offiziell bekannt gegeben haben. Jetzt führen wir eine breite Debatte auf nationaler Ebene, von der Arbeits- und Expertenebene bis zur politischen Ebene. In dieser Debatte wollen wir Tschechen aktiv mitwirken. Erste Ergebnisse sollte die Arbeitsgruppe zum Ende der Sommerpause, rechtzeitig zum Gipfel vorlegen.

Hat das Treffen der Regierungen der Visegrád-Länder vom 21. Juli gemeinsame Positionen zum Brexit erbracht?
Die Regierungschefs befassten sich nicht nur mit dem Brexit, sondern auch ausführlich mit der Reform der EU. In dieser Hinsicht haben sie sich darauf verständigt, dass die Hauptthemen zur Bildung einer gemeinsamen Position Sicherheit, Prosperität und besseres Funktionieren der Institutionen sein sollen. Diese Themen wird nun die polnische Präsidentschaft ausarbeiten, und die Regierungschefs sollen sich noch vor dem informellen Gipfel der EU-27 von Bratislava treffen, um für die Debatte über die Reform der EU die gemeinsame Position zu vereinbaren.

Welchen Stellenwert hat für Tschechien die Abstimmung mit Deutschland in diesen Fragen?
Wir haben in diesem Kontext drei grundlegende Bezugspunkte: die tschechisch-deutsche, die tschechisch-österreichische und die Visegrád-Kooperation. In diesem Rahmen wollen wir Kompromisse suchen. Wir können uns nicht nur in der Visegrád-Gruppe einigeln. Hinzu kommt, dass die französischen Aktivitäten der letzten Zeit diese Debatte sehr beleben. Das war auch der Grund, warum der französische Präsident eigentlich letzte Woche nach Prag, Bratislava und Wien kommen wollte; ihn interessiert, welche Sichtweisen diese Länder haben.

Was sind aus tschechischer Sicht die wichtigsten Lehren aus dem Brexit?
Die erste Schlussfolgerung ist: Man soll nie mit dem Feuer spielen. Der Brexit ist nur ein unverantwortliches Spiel von David Cameron. Zweitens muss die EU schneller werden in dem, was sie tut. Agenden dürfen sich nicht fünf Jahre hinziehen. Den Grenzschutz haben wir in einem halben Jahr aufgestellt. So sollte es auch bei anderen Fragen sein. Drittens müssen die Mitgliedstaaten viel entschiedener darüber befinden, was im Rahmen der Union erledigt wird und was nicht. Es darf nicht sein, dass etwa zehn Länder sagen, ein bestimmtes Thema gehört nicht nach Brüssel, und dass es trotzdem auf der Agenda bleibt. Und eine letzte Lehre ist die, auf der die Kampagne von Boris Johnson beruhte: die Kontrolle zurückgewinnen. Ein Grund, warum so viele Tschechen der Union nicht vertrauen, ist der Eindruck, dass wir die Angelegenheiten nicht unter Kontrolle haben. Und es ist erforderlich, dass die tschechischen Politiker etwas positiver über die EU sprechen. Dass heute Premier Sobotka einer der wenigen ist, die über die EU positiv reden, schadet uns. Falls jemand von der EU profitiert, dann sind das Länder wie Tschechien. Das gilt es gelegentlich deutlich zu sagen.

Sollen Konzepte einer EU mit mehr Geschwindigkeiten in Zukunft größeres Gewicht bekommen?
Ich glaube, das führt zur Desintegration. Mit dem Konzept verlieren wir die Motivation zum Kompromiss. Das wäre gefährlich. Schon heute haben wir eine unübersichtliche Situation. Eurozone, Schengen und andere Sondergruppen. Dazu die sogenannte verstärkte Zusammenarbeit. Diverse „Opt-outs“. Was gilt noch für wen? Das ist ein schlimmes Durcheinander und der Verpflichtung gegenüber Europa abträglich.

Kann man überhaupt noch Reformen wagen, die eine Änderung der Verträge implizieren?
Mit den jetzigen Verträgen werden wir wohl noch mindestens zehn Jahre leben müssen. Wohin die Entwicklung gehen wird, dazu werden uns die französischen Präsidentschaftswahlen einiges sagen. Das wird der erste große Test sein, wie stark Marine Le Pen ist. Der zweite Test werden die Bundestagswahlen im Herbst 2017 sein. Diese beiden Tests werden zeigen, wohin sich Europa entwickelt. Sollte Marine Le Pen in die zweite Runde gelangen und nur knapp unterliegen, dann haben wir ein großes Problem.

Der Kabinettschef von Juncker, Martin Selmayr, ließ aus Tokio während des G7-Gipfels über Twitter vernehmen, es sei für ihn ein Albtraum sich vorzustellen, beim nächsten Gipfel 2017 Donald Trump, Marine Le Pen und Beppo Grillo begrüßen zu müssen.
Er beschreibt Verhältnisse, über die wir vor drei, vier Jahren noch gelacht hätten. Doch seither haben wir Entwicklungen gesehen, die wir uns in den letzten 60 Jahren gar nicht vorstellen konnten. Es handelt sich um ein starkes Warnsignal. Die Menschen hören auf, der klassischen Politik zu vertrauen. Das Misstrauen so großer Massen in das traditionelle demokratische System ist letztlich die Ursache der Probleme, die wir haben. Falls die Briten diesem System vertrauten, hätten wir ein Ergebnis von 70:30 für den Verbleib in der Union bekommen.

Denken Sie nicht, dass eines der grundlegenden Probleme der EU darin liegt, dass sie offenbar die Fähigkeit verloren hat, für ihre Bürger einen gerechten Anteil am gemeinsamen Wohlstand zu sichern? Die Gräben vertiefen sich zwischen arm und reich, zwischen Peripherien und Zentren, und das innerhalb der Länder und in der EU als Ganzes.
Wenn ich auf die Statistiken der letzten Jahre schaue, sehe ich, dass die Konvergenz völlig stagniert. Schaut man auf die Entwicklung des Bruttoinlandprodukts, dann gibt es vielleicht ein geringes Wachstum. Was jedoch aufgehört hat zu wachsen, das sind die Löhne der ärmeren Leute. Auf einmal haben die Menschen das Gefühl, dass sich ihr Leben nicht mehr verbessert. Aber das heißt nicht unbedingt, dass sie nicht mehr der EU vertrauen. Sie vertrauen oft nicht mehr den Politikern zu Hause. Deshalb diese Liebe zu den neuen Heilsbringern quer durch Europa, von Spanien über Tschechien bis nach Schweden. In einem Land nach dem anderen erreichen heute Parteien, die vor zehn Jahren nicht einmal in die Parlamente gelangt wären, zehn, 15 oder mehr Prozent. Es fehlt am Mut und Willen zu vernünftigen Reformen. Betrachte ich mir Portugal oder Irland, so haben diese Länder verhältnismäßig massive Reformen durchgemacht und heute sind es wieder gut funktionierende Volkswirtschaften. Doch dann gibt es andere Länder, die sich diesen Reformen verweigerten, etwa Griechenland, und in diesen Ländern werden diese Probleme einfach andauern.

Wie steht es nach dem Einschnitt, den uns der Brexit bringt, mit der künftigen Erweiterung der EU? Der Wartesaal ist voll.
Die Bereitschaft zur Aufnahme schwindet. Serbien ist sehr gut vorbereitet, und ich denke, wir können das Land nicht abweisen. Der Westbalkan insgesamt braucht eine Perspektive. Das ist beispielsweise an Mazedonien gut zu sehen. Dieses Land war um die Jahrtausendwende beinahe das durch Reformen am besten vorbereitete Land der ehemaligen jugoslawischen Republiken. Vor allem weil Griechenland die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen blockiert, glitt das Land in die Krise, in der es heute steckt. Entweder wird es klar sein, dass die Länder des Westbalkans eine Chance haben, oder sie werden sich woanders Freunde suchen. Und wir können es uns nicht leisten, dass diese Länder ihre Bindungen anderswohin als nach Europa entwickeln.