„Ohne Prager Frühling kein Berliner Mauerfall“
Wie Lenka Reinerová den Einmarsch in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 erlebte
10. 8. 2016 - Text: Klaus Hanisch
Manchmal ist sie melancholisch, manchmal euphorisch. Vor allem wirkt Lenka Reinerová jedoch empört, wenn sie über das Jahr 1968 spricht. Jene Monate, die ihrem Land und ihrer Stadt politisch, gesellschaftlich und kulturell einen Frühling bescherten. Eine Epoche voller Optimismus, die mitten im Sommer jäh in einen bitterkalten Winter mündete, als plötzlich Panzer von vermeintlich Verbündeten durch die Straßen rollten.
Auch für Lenka Reinerová war der „Prager Frühling“ eine Zeit der Hoffnung. „Absolut, selbstverständlich“, bekräftigt sie mit Nachdruck, als wir Ende November 2002 zu einem längeren Plausch im Café Slavia sitzen. „Aber wir waren naiv bei der Vorstellung, dass es wirklich gelingen könnte“, fügt sie nach kurzer Pause an. Ihre Begründung: „Die Sowjetunion, das Regime dort, konnte sich das doch überhaupt nicht leisten.“
Die Autorin wird heute in Reiseführern oft als Legende beschrieben. Nach ihrem Tod im Juni 2008 sei „die Zeit der Prager Literatur endgültig in die Welt der Bücher“ versunken, steht dort zu lesen. „Eine Epoche der Literaturgeschichte ist zu Ende gegangen“, als Reinerová im Alter von 92 Jahren verstarb. Denn sie sei die letzte Angehörige der deutschsprachigen und jüdischen Schriftsteller Prags gewesen. „Das stimmt tatsächlich“, erklärt sie mir im Slavia, „ich habe selbst eine Liste mit all diesen Autoren gesehen. Und da stand mein Name als letzter in der Reihe.“
Ich bin Lenka Reinerová mehrfach begegnet. Im Spätherbst 2002 sprechen wir auch über ihre Erinnerungen an das Schicksalsjahr 1968. Sie wurde im Mai 1916 in Prag geboren, vor nun genau 100 Jahren, als Tochter einer jüdischen Familie, in der Deutsch und Tschechisch gesprochen wurde. Und sie glaubte lange an die kommunistische Idee. „Ich sage sehr offen und betont: Ich war Kommunistin!“, stellt Lenka Reinerová während unseres Gesprächs fest, „und ich gehöre nicht zu den Leuten, die vergessen und sich heute nicht mehr daran erinnern können oder wollen.“
Den Anstoß dazu lieferten bereits Kindheitserlebnisse auf den Straßen Prags. Damals kamen ihr erste Zweifel, dass es in dieser Welt gerecht zugehe. Lenka Reinerová pocht mit den Fingerrücken im Slavia auf den Tisch. „Die Verdammten dieser Erde, dass die endlich mal an die Macht kommen, da war ich aber sehr dafür.“ Vielleicht der Hauptgrund für ihre Sympathie gegenüber kommunistischen Idealen.
Auch während unseres Treffens kann sie ihre Begeisterung noch nachvollziehen. „Ich war ja nicht allein damit“, bemerkt sie, „Millionen Menschen auf der ganzen Welt haben das mitempfunden. Millionen!“ Nicht zuletzt diese Massenbewegung löste bei ihr diese Empathie aus.
„Und dann war da eben der Versuch in der Sowjetunion, es neu zu machen, es anders zu machen“, sagt die Schriftstellerin. Erste Erfolge schienen das zu bestätigen. „Was sich zum Beispiel in der Kultur getan hat, da war ja etwas los am Anfang.“ In diesem Moment denkt sie beinahe mit etwas Wehmut zurück.
Doch schon in den fünfziger Jahren erhielt ihre Euphorie einen gewaltigen Dämpfer. Da machte sie erstmals schlimme Erfahrungen mit einem kommunistischen Regime, sogar mit dem ihres Heimatlandes. In der sozialistischen Tschechoslowakei traten antijüdische Ressentiments deutlich zutage. Rudolf Slánský, ehemals Generalsekretär der Kommunistischen Partei, wurde in einem Schauprozess wegen angeblicher staatsfeindlicher Verschwörung zum Tode verurteilt und 1952 hingerichtet.
Auch Lenka Reinerová wurde verhaftet, fast zeitgleich, wegen imperialistischer Hetze. Mehr als ein Jahr saß sie im Gefängnis in Prag-Ruzyně. Die Erfahrungen und Erlebnisse dieser Zeit verarbeitete sie in ihrem Buch „Barva slunce a noci“ („Die Farbe der Sonne und der Nacht“). Sie schrieb es ausnahmsweise sogar auf Tschechisch. „Damals schon, in den fünfziger Jahren“, so Reinerová. Großen Widerhall fand sie nicht. „Ich bin jahrelang mit diesem Manuskript bei tschechischen Verlagen hausieren gegangen, doch keiner wollte es“, erläutert sie, „die einen sagten mir, es müsse schärfer sein, und die anderen, es sei zu scharf.“
Doch dann: 1968. Endlich „hat es ein Verlag genommen und im Januar 1969 ist es erschienen.“ Lenka Reinerová war 52 Jahre alt und wirkte auch anderweitig aktiv in dieser bewegten Zeit mit. „Ich habe eine Zeitschrift gemacht, die sehr engagiert war“, blickt sie zurück.
Schon 1964 war sie rehabilitiert worden und durfte wieder schreiben und veröffentlichen. „Die Partei war 1958 wieder auf mich zugekommen und man hatte gesagt: Wir wissen genau, wer Du bist und was Du hinter dir hast. Du musst wieder bei uns Parteimitglied sein.“ Es sei „eine Sache der Ehre“, warben Funktionäre um die Genossin, die sie plötzlich wieder in ihren Reihen sehen wollten.
Schließlich: der 21. August 1968. In ihrem Buch „Zu Hause in Prag, manchmal auch anderswo“ schilderte Lenka Reinerová eindrucksvoll, wie sie den Tag erlebte. Ganz früh am Morgen klingelte in ihrer Wohnung das Telefon. „Ein Freund rief mir ein paar verrückte Worte zu“, notierte sie. Lenka Reinerová „legte mechanisch auf. Hob mechanisch wieder den Hörer, wählte mit zitternder Hand eine Nummer. Rief Freunden ein paar verrückte Worte zu.“
Dann lief sie auf den Balkon. „Ein Mann rannte durch die leere Straße und schrie etwas. Hinter den Fenstern der schlafenden Häuser ging jäh das Licht an. Der Mann schrie: Wacht auf, Leute, sie besetzen uns!“
Lenka Reinerová eilte auf die Straße. Es war kurz vor sechs Uhr. „Fast jeder Mensch hatte ein Transistorgerät im Arm, am Ohr. Man wartete noch auf die Straßenbahn, aber die kam nicht mehr. Ruhe, flehte eine vertraute Stimme im Transistorgerät, Freunde, bewahrt um jeden Preis Ruhe.“ Jäh erwacht, hielt sie vor ihrem Haus ein Auto an. „Der Mann am Steuer öffnete bereitwillig die Wagentür. Als wir losfuhren, sagte er tonlos: Wir sind ein kleines Land. Auf dem Klárov-Platz blieb er stehen, konnte nicht weiterfahren.“
Die Autorin suchte verschiedene Orte auf, um sich ein Bild von den Ereignissen zu machen. Altstädter Ring. Sie sah, dass „jemand dem steinernen Magister Jan Hus inmitten des eingebrochenen Rüstungsarsenals barmherzig die Augen verbunden hatte.“ Grab des Unbekannten Soldaten. Dort „standen viele Gläser mit frischen Blumen.“ Alter Jüdischer Friedhof. An dessen Gittertor „war ein graues Pappschild befestigt mit der Aufschrift: Sie schweigen. Sie wissen das Ihre.“
Man erzählte sich gegenseitig, dass die Prager selbst an ganz bedrohlichem Kriegsgerät vorbeigegangen seien wie an Bäumen. „Wenn die Luft von kurzen Stößen flimmerte, hoben sie die Köpfe, setzten ihren Weg fort oder begaben sich ruhig in den Schutz des nächsten Hauses“, beobachtete Lenka Reinerová, „viele Prager Häuser zeigten seither jahrelang kleine runde Einschusswunden.“ Und über Haustoren und an Straßenecken gab es „tagelang blinde Stellen“. Denn die Hausnummern und Straßenschilder fehlten, damit die Invasoren nicht den Weg finden.
Als sie am Abend zu ihrer Wohnung im Stadtteil Košíře gegenüber dem Klamovka-Park zurückkehrte, fand sie ein neues Namensschild vor. Darauf stand nun Dubček und nicht mehr Reinerová. In dicken schwarzen Buchstaben. Dubček hieß plötzlich auch ihr Nachbar. Jeder Mitbewohner trug jetzt diesen Namen. „Ein junges Mädchen hatte in unserem Haus von unten bis oben an allen Wohnungen diese Änderungen vorgenommen“, fand Lenka Reinerová heraus. „Und niemand hat dagegen protestiert, obwohl die Wohnungsinhaber sehr unterschiedlicher Anschauung waren. Aber in jenen Tagen war das überfallene Volk einmütig.“
Darüber konnte sie schmunzeln. Und diese Solidarität begeisterte sie. Gleichwohl minderte dies nicht ihre Pein. „Irgendwie hatte ich das Gefühl, der Schmerz, der wie ein Stein in mir lag, habe auch die Schienenstränge der Straßenbahn verbogen und vielleicht auch die fürchterlichen braunroten Flecken verursacht, die selbst mehrfache Regenschauer nicht von den Pflastersteinen spülten“, beschrieb sie sehr anschaulich.
Diesen Schmerz verursachten nicht allein Tod und Leid ihrer Mitbürger. Lenka Reinerová bedrückte auch, wer die Tschechen und Slowaken in die Knie zwang. Entsetzt musste sie feststellen, dass die reglose Gestalt im langen Mantel und mit einer Maschinenpistole auf dem Klárov-Platz kein Denkmal war, wie auf vielen Straßen und Plätzen ihres Landes, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Schlimmer noch: „Ein Soldat der Befreiungsarmee.“
Der Torso des Altstädter Rathauses rührte daher, dass vor 23 Jahren darauf geschossen worden war. Das war aber „im Krieg und vom Feind“. In der Straße vor ihrem Haus waren die Bordsteine „wie von gigantischen Drachenzähnen zerklüftet.“ Denn „dort waren die Panzer der ,Bruderarmeen‘ durchgekommen.“
Dieser 21. August 1968 bescherte Lenka Reinerová gleich mehrere Déjà-vu-Erlebnisse. Wieder hatten sie die Kommunisten zutiefst enttäuscht. Wie in den fünfziger Jahren, als ihre eigenen Genossen sie aus heiterem Himmel plötzlich verhafteten. „Mein Problem war damals: Wie ist so etwas möglich? Es sind doch sozusagen meine eigenen Leute! Das machte doch das Problem noch viel schwieriger“, führt sie im Slavia aus und blickt mir ernst ins Gesicht. „Wenn Sie vor einem Gegner stehen, von dem Sie wissen, er ist Ihr Gegner, dann ist alles in Ordnung, Sie sind ja auch gegen ihn, fertig. Das ist sauber, klar. Aber wenn Sie von Ihren eigenen Leute geholt werden, dann ist nix klar.“
Es wäre für sie keinen Deut besser gewesen, wenn westliche Staaten ihre Tschechoslowakei heimgesucht hätten. Dass Truppen aus den kommunistischen Nachbarstaaten einmarschierten, war für sie aber noch unverständlicher. Damit endete brutal das kurze Tauwetter in ihrer Heimat. Mit Folgen auch für Lenka Reinerová. Ihr Band „Barva slunce a noci“ war kaum erschienen und wurde schon wieder verboten. „Zwar war Dubček noch an der Macht, rein formal, trotzdem ging es sofort in die Schrottmaschine.“ Sie konnte es erst Anfang der nuller Jahre in der Tschechischen Republik publizieren (unter dem Titel „Všechny barvy slunce a noci“ – „Alle Farben der Sonne und der Nacht“).
Und dies war nicht die einzige Einschränkung. Erneut erhielt Lenka Reinerová Berufsverbot und durfte ihrer Arbeit als Autorin nicht mehr nachgehen. „Ich habe als Simultan-Dolmetscherin gearbeitet, das war eine anonyme Arbeit, wie bei vielen anderen Schriftstellern und Journalisten, die als Heizer oder Schaufenster-Wäscher arbeiten mussten“, erklärt sie mir im Slavia. Immerhin hatte diese Arbeit für sie zumindest einen gewissen Sinn. „Das war nicht ganz idiotisch und auch noch ganz gut bezahlt.“
Daneben fand sie eine kleine Nische. „Ich habe auch übersetzt, was ich nicht durfte, aber eine Kollegin hatte den Vertrag für mich unterschrieben und die wurde in dem Buch auch als Übersetzerin abgedruckt. Sie war mächtig stolz darauf, aber der Verlag wusste natürlich, dass ich es mache“, lacht Lenka Reinerová.
Trotz aller persönlichen und gemeinschaftlichen Nachteile blieb der Prager Frühling für sie ein Ereignis mit weitreichenden historischen Konsequenzen. Im Rückblick auf den August 1968 kommt die Schriftstellerin bei unserem Gespräch im November 2002 zu einem klaren Fazit: „Ich denke bis heute: Wenn wir nicht den Prager Frühling hier gehabt hätten, dann wäre der Gorbatschow nie ans Ruder gekommen – und wenn der Gorbatschow nicht ans Ruder gekommen wäre, fragt sich, wie lange die Mauer noch standgehalten hätte.“
„Wie 1938“
30 Jahre PZ