„Wir brauchen die Unterstützung der anderen“

Norbert Spinrath, Bundestagsmitglied und europapolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, hat mit seinen Parteikollegen in Prag und Bratislava über Flüchtlingspolitik und Solidarität diskutiert

21. 9. 2016 - Text: Stefan Welzel

Es ist der 16. September – ein richtungsweisender Tag in der europäischen Politik. In Bratislava geht gerade der erste EU-Gipfel seit dem Brexit über die Bühne. SPD-Politiker Norbert Spinrath sitzt im Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Prag. Soeben hat er sich im Abgeordnetenhaus mit seinen Kollegen der tschechischen Sozialdemokraten über bilaterale Themen, vor allem aber über die europäische Integration und die Flüchtlingskrise ausgetauscht. In vielem waren sie sich einig, in manchem gehen die Meinungen deutlich auseinander.

Ein tschechischer Sozialdemokrat und Senator mit syrischen Wurzeln erklärte jüngst, dass die Ansiedlung von Migranten aus dem arabischen Raum „schlechtes demografisches Management“ wäre. Ist eine derartige Aussage für einen deutschen Sozialdemokraten aus dem Mund eines Partei­kollegen nicht befremdlich?
Das verstößt gegen jeden Grundsatz, für den wir stehen. Die Grundrechte sind nicht verhandelbar und gelten für jeden Menschen. Dazu gehört das Recht auf Asyl, egal woher der Flüchtende kommt. Das steht in der Verfassung eines jeden EU-Mitgliedstaates. Deshalb ist so eine Aussage völlig unverständlich.

Skepsis bis offene Ablehnung gegenüber Migranten trifft man in Osteuropa oft an, auch bei Linken. Sie haben in der vergangenen Woche mit Kollegen der slowakischen SMER und der ČSSD intensive Gespräche geführt. Sind Sie etwas schlauer geworden, warum solche Meinungen existieren?
Wir haben über den Brexit, die europäische Integration, Wirtschafts- und Bildungsfragen geredet. Und natürlich auch viel über die Flüchtlingskrise. Ich habe sehr deutliche Unterschiede festgestellt, bin aber froh, zuerst Bratislava und danach Prag besucht zu haben. Denn hier in Prag habe ich gemerkt, dass die tschechischen Sozialdemokraten und auch die Haltung ihres Premiers einiges moderater und proeuropäischer sind als es in Bratislava der Fall war. Dennoch kam der Verweis auf eine verunsicherte und verängstigte Bevölkerung, obwohl hier kaum Flüchtlinge leben. Doch die Rechten nutzen das Thema aus. Und die Sozialdemokraten glauben, diese Linie aus wahltaktischen Überlegungen mitgehen zu müssen.

Was schlagen Sie Ihren Kollegen als Alternative vor?
Wir sind als verantwortliche Politiker in der Pflicht, mit den Ängsten der Bevölkerung umzugehen. Wir müssen dabei aber auch deutlich aufzeigen, wenn diese durch Fakten nicht zu belegen sind. Wir dürfen nicht populistisch sein und uns nur an Umfragewerten orientieren. Vielmehr müssen wir uns – unabhängig von Wahlterminen – zu unseren Grundüberzeugungen bekennen und gute, solidarische Politik für alle Menschen machen.

Das ist schwer in Zeiten vielerorts herrschender Überfremdungsangst.
In Deutschland wurden erst kürzlich drei Verdächtige festgenommen. Mit den Tätern von Würzburg und Ansbach macht das fünf. Das sind fünf aus 1,5 Millionen Migranten. Kommen noch 60 weitere Verdachtsfälle hinzu, die derzeit ermittelt werden. 65 von – zählt man alle aus den letzten fünf Jahren zusammen – zwei Millionen. Diese kleine Zahl rechtfertigt nicht die Annahme, dass Flüchtlinge ganz allgemein eine terroristische Bedrohung bedeuten. Vorfälle wie in der Kölner Silvesternacht verunsichern die Leute, aber sie sind nicht symptomatisch für das Verhalten von Migranten. Hier muss man differenzieren und das den Bürgern auch so kommunizieren.

Wie kann man den Graben zwischen Ost- und Westeuropa  überwinden?
Indem man eben keine populistische Politik betreibt und den Menschen das Wort redet, die fremdenskeptische Argumente ins Feld führen.

Hier gab es von slowakischer oder tschechischer Seite gewiss den einen oder anderen Einwand.
Der meist Gehörte war, dass man mit Einwanderern aus fremden Kulturen einfach zu wenig Erfahrung habe. Nur stimmt das so nicht. Auch im kommunistischen Machtbereich gab es zahlreiche Gastarbeiter aus Afrika oder Vietnam. Außerdem haben wir in Deutschland auch erst seit 50, 60 Jahren Erfahrungen mit Gastarbeitern. Und die sind in den meisten Fällen geblieben, haben ihre Familien nachgeholt und ihre Kulturen gelebt. Dabei sind Parallel­gesellschaften, geradezu moderne Ghettos entstanden. Diesen Fehler dürfen wir nicht noch mal machen. Aber zurück zu den Einwänden: Die zehn neuen Mitgliedstaaten hatten 2004 auch keine Probleme, die fehlende Erfahrung beim Stellen von Anträgen auf Strukturfördermittel schnellstmöglich zu kompensieren. Wenn man die Vorteile der EU will, muss man auch das Unangenehme mittragen.

Sie haben einige Jahre in der Landesvertretung Nordrhein-Westfalens in Brüssel gearbeitet. Können Sie die Skepsis der kleinen bis mittelgroßen Staaten Osteuropas vor dem „Bürokratiemonster in Brüssel“ ein wenig verstehen?
Nein. Denn erstens wollten sie ja Mitglied werden und haben alles dafür getan. Ich war genau in der Zeit der Osterweiterung 2004 in Brüssel. Das ging damals schon sehr schnell. Aber es herrschte Euphorie und Goldgräberstimmung. Die Osteuropäer waren begeistert von den demokratischen Abläufen in Brüssel.

Viele tschechische Bürger und auch Politiker fühlen sich inzwischen als kleine Nation an den Rand gedrängt und von Brüssel bevormundet.
Seit dem Vertrag von Lissabon gilt der Mehrheitsbeschluss. Und diesen Vertrag haben auch die demokratisch gewählten Regierungen in Osteuropa, inklusive Tschechien, unterzeichnet. Nun ist der erste Mehrheits­beschluss ausgerechnet derjenige zur Verteilung der Flüchtlinge nach bestimmten Quoten.

Gegen die sich vor allem die Visegrád-Staaten vehement wehren.
In Bratislava habe ich von SMER-Vertretern den Vorwurf gehört, das sei ein Befehl aus Brüssel. Das ist aber kein Befehl, sondern eine demokratische Entscheidung. So steht es in den Verträgen. Ich habe als Demokrat von klein auf gelernt: eine Mehrheit ist eine Mehrheit. So funktioniert Demokratie nun mal.

Mit Demokratielehrstunden kann man aber keine Ängste vor Fremden bekämpfen.
Ich kann die Unsicherheit verstehen. Aber Angst? Nein. Ängste werden geschürt von populistischen Politikern. Ich will aber  nicht belehren, sondern meinen sozialdemokratischen Parteikollegen in Bratislava oder Prag lediglich sagen, sie sollen doch zu den ursozialdemokratischen Grundüberzeugeungen zurückkehren. Und die sind überall die gleichen, nämlich unter anderem Menschen in Not zu helfen.

Und was waren die Ergebnisse der Gespräche in Prag? Stimmten Ihnen Ihre tschechischen Gesprächspartner in diesem Punkt zu?
Im Grunde waren wir uns einig. Aber sie wussten nicht, wie sie das in ihre Alltagsarbeit ein­betten sollen. Demnächst stehen die Kreiswahlen an und das Thema ist heikel. Ich glaube aber, dass bei meinen tschechischen Kollegen die Erkenntnis wächst, beim Thema Flüchtlingsaufnahme die humane Linie zu verteidigen und sich dem Mainstream entgegenzustellen.

Viele Flüchtlinge wollen nicht unbedingt in Tschechien bleiben, sondern weiter nach Deutsch­land oder Skandinavien. Wäre es denkbar, die Sozial­leistungen in Europa anzugleichen? Mit entsprechenden Subventionen für die ärmeren Mitgliedsstaaten?
Ich habe bereits letzten Herbst in Brüssel Anregungen in diese Richtung gemacht. Wir müssen die gesamte Kompetenz der Flüchtlingssteuerung auf Brüssel übertragen. Und danach vergleichbare Standards entsprechend den Lebensumständen in den jeweiligen Ländern setzen. Gleiche Standards im Asyl­verfahren, bei Annerkennungsquoten, bei der rechtlichen Situation, bei der Unterbringung, bei der Bildung, beim Zugang zum Arbeitsmarkt und den Sozial­leistungen. Die EU müsste dabei nicht nur die Kosten für Asyl­suchende, sondern auch die damit zusammenhängenden Aufwendungen für die Infra­struktur übernehmen. Dafür müssten die Haushaltsbeiträge erhöht werden. Die Länder, die Flüchtlinge aufnehmen, würden also finanziell profitieren.

Das heißt nichts anderes, als fehlenden Willen mit monäteren Anreizen zu bekämpfen.
Im Prinzip ja. Aber man könnte sogar überkompensieren und Infrastrukturprojekte angehen, die man für die eigene Bevölkerung sowieso braucht. Der negative Aspekt: Wenn ein Flüchtling das Land verlässt, muss dieses die entsprechenden Kosten zurückerstatten.

Im Gespräch war auch das Malus-System, also für jeden nach Quote nicht aufgenommenen Flüchtling muss ein Staat 250.000 Euro nach Brüssel überweisen. Wäre das praktikabel?
Der Ansatz wäre richtig. Aber die Zahl ist absurd hoch. Doch hat die Empörung über diese hohe Summe eine Diskussion angestoßen, wie man fehlende Aufnahmebereitschaft kompensieren kann. Die Slowakei zum Beispiel bietet an, zur Sicherung der Außengrenzen Personal nach Griechenland zu entsenden. Das Credo lautet dabei aber immer: Schickt uns nur keine Muslime! Hier kann ich aber nur noch mal darauf verweisen: Unser Grundgesetz, die Genfer Flüchtlingskonvention und die europäischen Verträge verpflichten uns ganz klar zur Hilfestellung. Und Deutschland schafft das nicht alleine. Wir sind auf die Unterstützung der anderen Mitgliedstaaten angewiesen. Das ist keine Frage der Solidarität Deutschland, sondern den Flüchtlingen gegenüber.