Mährische Bilderwelten
Die Lyrikreihe „Poesiealbum“ widmet dem Schriftsteller Jan Skácel eine Ausgabe mit Nachdichtungen von Reiner Kunze
22. 9. 2016 - Text: Volker StrebelText: Volker Strebel; Foto: CzechTourism
Jan Skácel (1922–1989) gehört neben Vladimír Holan, Vítězslav Nezval und Jaroslav Seifert zu den großen Namen der modernen tschechischen Lyrik. In den sechziger Jahren veröffentlichte Skácel in seiner Heimat mehrere Gedichtbände und machte sich mit seinen ironischen wie auch nachdenklichen Feuilletons einen Namen. Als Chefredakteur der tschechoslowakischen Literaturzeitschrift „Host do domu“ (Gast ins Haus) sorgte er dafür, dass sich in Zeiten von Ausgrenzung und ideologischen Mauern wenigstens auf intellektuellem Wege die Türen zur Welt öffneten.
Auf den ersten, oberflächlichen Blick mögen Skácels Gedichte mit ihren Motiven einer ländlichen Welt irritieren. Zugleich geht von den starken Metaphern ein nahezu unmerklicher Sog aus. Skácels Bild- und Gedankenwelt ist von der Gewissheit gekennzeichnet, dass die Fähigkeiten der menschlichen Wahrnehmung begrenzt sind. Geheimnisse hatte Skácel nicht als intellektuelle Niederlage empfunden, sondern ganz im Gegenteil als notwendigen Bestandteil des menschlichen Lebens schlechthin. Im Gedicht „Trauern“ spricht er über die unausbleibliche Sterblichkeit und kommt zu einem unvermuteten Ergebnis: „Haben wir den mut/nach der angst zu fassen wie nach einer klinke und einzutreten.“
Neben Melancholie und Nachdenklichkeit beherrschen die Natur sowie ihre Farben und Gerüche Skácels Verse. Zugleich weiß der Dichter von der Unergründlichkeit der Liebe zwischen zwei Menschen, wenn er schreibt „Handbreit voneinander liegen wir im blinden“.
Das Rätsel des menschlichen Seins entfaltet sich in einem unspektakulären Spannungsbogen. Es geht dabei um Ahnungen, Begegnungen und Erlebnisse, die das Innerste anrühren, ohne sich auf einen rationalen Nenner reduzieren zu lassen. Im Gedicht „Letzter Sonntag in den Ferien“ finden sich die Verse: „Ein junge springt über das springseil/die hanfschnur schneidet eine kugel aus/und er steht mitten in ihr“. In derartigen Zeilen zeigt sich Skácels Meisterschaft, mit Worten neue Dimensionen zu öffnen. Dass in diesem Zusammenhang kindliche Elemente zur Sprache kommen, ist kein Zufall. Die Sensibilität gegenüber der Kinderwelt ist durchaus in der tschechischen Literatur und auch in der Filmkunst verankert. Viele Dichter haben versucht, die Welt mit Kinderaugen zu sehen und Verse für die Kleinen geschrieben.
Es wäre ein großes Missverständnis, würde man Skácels Verswelt einem unpolitischen Raum der Idylle zuordnen. Das hatte bereits der Lebenslauf Skácels widerlegt. Während der Protektoratszeit war Skácel als Fremdarbeiter in den Alpen verpflichtet. In den bleiernen Jahren der sogenannten Normalisierung hatte er seine Funktion als Chefredakteur aufgeben müssen. Seine Texte konnte er über viele Jahre nur im Selbstverlag, im sogenannten Samisdat, oder im Ausland veröffentlichen. Skácel wurde zu einem „Verbotenen Menschen“: „Alles was ich besitze hab ich nach innen gewendet/und es ist von der anderen seite der tür wie die krawatten/an der rückwand innen im kleiderschrank“.
Auch in den schweren Jahren des verordneten Schweigens hatte der Autor, wie es seine Gewohnheit war, am liebsten Brünn durchstreift und dabei über Gott und die Welt nachgedacht. Während jener Phase verfasste Skácel die beiden Zyklen „Der Fehler der Pfirsiche“ und „Kleine Nüsse für den schwarzen Papagei“ mit je hundert Vierzeilern, von denen ebenfalls eine Auswahl in dem vorliegenden Heft abgedruckt ist.
Die im „Poesiealbum“ veröffentlichte Auswahl hat Reiner Kunze zusammengestellt. Seit Jahrzehnten bemüht sich der deutsche Lyriker, auf das poetische Werk seines Kollegen aus Mähren aufmerksam zu machen. Es war Kunze, der erstmals Gedichte von Skácel ins Deutsche übergetrug und auch für die Bände „Fährgeld für Charon“ (1967) und „wundklee“ (1982) verantwortlich war.
Es ist dem Märkischen Verlag in Wilhelmshorst zu verdanken, dass Gedichte von Skácel in die renommierte Reihe „Poesiealbum“ aufgenommen wurden, die einst vom Schriftsteller Bernd Jentzsch in der DDR gegründet wurde. Das vorliegende Heft ermöglicht einen eindrucksvollen Einblick in das faszinierende Werk Jan Skácels.
Poesiealbum 325 – Jan Skácel. Auswahl und Nachdichtung von Reiner Kunze. Mit einer Grafik von Karel Franta. Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2016, 31 Seiten, 5 Euro, ISSN 1865-6874
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?