Mit Filmen denken
Seit 20 Jahren bringt das Internationale Dokumentarfilmfestival Jihlava anspruchsvolle Beiträge auf die Leinwand
3. 11. 2016 - Text: Jan NechanickýText: Jan Nechanický; Fotos: J. Nechanický, IDFF Jihlava
Wenn man nicht gerade zum Filmfestival über den Marktplatz läuft, wirkt die Stadt eher verschlafen. Das einzige, was das Auge fesselt, ist ein riesiger Betonklotz in der Mitte des sonst so schönen barocken Platzes. In den achtziger Jahren haben die Stadtabgeordneten hier ein Kaufhaus mit unterirdischem Parkplatz, der auch als Bunker dienen sollte, bauen lassen. Ein Koloss aus Stahl und Beton, so hässlich, dass er fasziniert. „Deshalb stehen wir nicht auf der Unesco-Liste. In 30 Jahren werden wir es aber vielleicht genau deswegen sein“, meint ein Einheimischer zu mir. Ein heftiger Kontrast.
Kontraste sind es auch, die die Aufmerksamkeit des Betrachters während des Internationalen Dokumentarfilmfestivals wecken. Über den Markplatz schlendern Menschen, die man hier sonst nicht sieht. Man hört Sprachen, die man sonst in der Stadt nicht zu Ohren bekommt. Besucher aus Spanien, Deutschland, Frankreich und anderen Ländern sind in die Vysočina gereist und genießen wie ich die Ruhe. Mitunter habe ich das Gefühl, Jihlava würde sich für ein paar Tage in Prag verwandeln – aber ein ruhigeres, gemütlicheres Prag.
Für viele Einwohner bedeutet das Festival nicht gerade Entspannung. Der Besitzer eines kleinen Cafés in der Altstadt erklärt mir, er habe in den vergangenen zehn Jahren noch keinen einzigen Film des Festivals gesehen. Während der Veranstaltung müsse er durchgehend arbeiten. In diesen fünf Tagen steigen seine Umsätze um das Fünffache.
Als das Festival vor 20 Jahren zum ersten Mal stattfand, konnten seine Gründer – eine Gruppe von Studenten – kaum ahnen, wie sich ihr Filmfest entwickeln sollte. In diesem Jahr kamen 4.400 Besucher nach Jihlava, mehr als je zuvor. Unter ihnen auch Filmemacher und Kameraleute. Gäste waren der Psychologe und Mitbegründer des berühmten „Stanford-Prison-Experiment“ Philip Zimbardo, der Medienaktivist Igor Vamos und die Filmproduzentin Rebecca O’Brien. In den vergangenen Jahren konnten die Besucher mit der russischen Schriftstellerin Natalja Gorbanewskaja, dem chinesischen Literatur-Nobelpreisträger Gao Xingjian, den Aktivisten des Künstlerkollektivs Wojna, mit Marija Aljochina von Pussy Riot und mit dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange diskutieren.
Der Fokus liegt jedoch nicht auf schillernden Persönlichkeiten, sondern nach wie vor auf dem Dokumentarfilm. Mehr als 200 Filme liefen am Wochenende über die Leinwand. In sieben Kategorien wurden Preise verliehen.
In der Rubrik „Česká radost“ („Tschechische Freude“) wurde der beste Dokumentarfilm des Landes gesucht. Die Jury entschied sich für zwei Filme: Mit „FC Roma“ kämpfen die Regisseure gegen Rassismus und zeigen zugleich, welchen Schwierigkeiten Roma begegnen, wenn sie so etwas Normales tun wollen wie Fußball spielen. In „Normální autistický film“ („Ein normaler autistischer Film“) stellen die Filmemacher die gängige Auffassung von Autismus in Frage. Als bester internationaler Film wurde die französisch-griechische Doku „Fantasmata planiountai pano apo tin Evropi“ („Gespenster wandeln durch Europa“) ausgezeichnet. Sie überzeugt mit einem nüchternen Blick auf das Leben im griechischen Flüchtlingslager Idomeni.
In der Kategorie „Mezi moři“ („Zwischen den Meeren“) treten die besten Dokumentationen aus Ostmitteleuropa an. Den Preis gewann „Daisis Miziduloba“ („Blendendes Licht der Dämmerung“) über das Leben zweier Menschen, die für einen kleinen Fernsehsender in der georgischen Provinz arbeiten.
Weitere Preise wurden für den überzeugendsten Experimentalfilm, den besten Kurzfilm und das beste Debüt verteilt. Die Auswahl der Jury und die anspruchsvolle Programmauswahl der Veranstalter bewies, dass sie zum Motto ihres Festivals stehen: „Myslet filmem“ – mit dem Film (nach)denken.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?