Als Kisch noch auf dem Flam war

Als Kisch noch auf dem Flam war

In „Das Lied von Jaburek“ präsentiert der Verlag Wagenbach amüsante Prager Reportagen des „rasenden Reporters“

27. 4. 2016 - Text: Helge HommersText: Helge Hommers; Foto: Ullstein Bild – Imagno/Sammlung Hubmann und Archiv Verlag Klaus Wagenbach

 

Auch Egon Erwin Kisch hat einmal klein angefangen. Nach einem flüchtigen Intermezzo als Volontär beim „Prager Tagblatt“ begann der damals 21-Jährige seine journalistische Laufbahn 1906 als Lokalreporter bei der Tageszeitung „Bohemia“. Dort blieb der „rasende Reporter“, der später zu einem der bekanntesten deutschsprachigen Journalisten wurde, sieben Jahre.

Insgesamt 19 Reportagen, die Kisch von dieser Zeit bis 1931 verfasste, hat der Verlag Klaus Wagenbach vor kurzem veröffentlicht. In der Buchreihe „SALTO“ erscheinen laut Wagenbach seit fast 30 Jahren „literarische und (kultur-)geschichtliche Kostbarkeiten“ – und dieses Prädikat verdient auch die Kisch-Anthologie mit dem Titel „Das Lied von Jaburek“.

Bereits auf den ersten Seiten des Buches lässt sich der Stil des „rasenden Reporters“ erkennen. Als Investigativjournalist verbringt er eine Nacht in einem Obdachlosenheim, das jedoch aufgrund seiner hierarchischen Atmosphäre mehr einer Kaserne gleicht. Schnell fällt er durch seine Tollpatschigkeit inmitten seiner „Leidensgenossen“ auf, die ihn zurechtweisen – was Kisch eindringlich beschreibt, ohne jedoch dabei den Respekt vor ihnen zu verlieren. Nur gegenüber dem Verhalten des herrisch auftretenden Personals fehlen ihm die Worte. Denn die Angestellten bezeichnen ihn als „Lausbub“, dabei galt er nach der Hygienekontrolle doch als offiziell „lausfrei“.

Die Niklasbrücke (heute Čech-Brücke) mit Blick auf die Altstadt

Überhaupt erweckt Kisch den Eindruck, dass das Militär im Prag des beginnenden 20. Jahrhunderts allgegenwärtig war. So auch in seinem Text über den Kanonier Jaburek, der der Anthologie den Titel gab. Denn jenes Lied war seinerzeit ein bekannter Soldatenschlager, der selbst von rivalisierenden Dienstgraden – vor allem im Wirtshaus – gerne auch gemeinsam angestimmt wurde. Doch nicht immer ging es im damaligen Prag, als man seine Zigaretten noch einzeln kaufte und Militäruniformen eine geradezu magische Anziehungskraft auf Frauen hatten, so lustig zu. Besonders auf den Prager Brücken kam es häufig zu Diskussionen und manchmal auch zu Handgreiflichkeiten, wenn Passanten sie überqueren wollten. Denn damals mussten die Prager noch den Brückenkreuzer entrichten, wollten sie sich nicht ein Wettrennen mit dem Brückenhüter liefern. Von Mautgebühren befreit war einzig die Karlsbrücke, die somit häufig als Ausweichstrecke genutzt wurde. Doch die Prager wussten sich auch anders zu helfen und trieben die Brückenhüter so manches Mal in den Wahnsinn – wie der „rasende Reporter“, der es häufig gar nicht so eilig hatte und möglicherweise mit dafür verantwortlich ist, dass die Maut­einnehmer heute anderswo die Bürger verärgern.

Die Länge der Texte variiert von überschaubaren drei Seiten für einen Nachruf auf den stadtbekannten Wirt „Osman“ bis zu einer über 16 Seiten langen, fast schon prosaisch anmutenden Reportage über Kischs Versuch, den sagenumwobenen Golem wiederzuerwecken. Mit 28 Schwarz-Weiß-Illustrationen sind die Geschichten reich bebildert, was eine hervorragende Ergänzung zum Geschriebenen darstellt. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass eine „Gemeindetruhe“ vor knapp 100 Jahren eine Art Rettungswagen für Verletzte und Betrunkene war, aber optisch eher einem Sarg als einem Transportmittel glich? Hilfreich ist auch, dass am Ende des Buchs veraltete Begriffe erläutert werden. Denn dass „auf dem Flam sein“ soviel wie ausgehen bedeutet und „pokulieren“ für saufen steht, mag zwar geläufig gewesen sein, als Kisch sich häufig noch in den frühen Morgenstunden im „Montmartre“ herumtrieb, ist heutzutage aber eher unüblich.

Neben seinem feinen, oft auch ironischen Humor, besticht Kisch auf knapp 140 Seiten mit seinem scharfen Blick für die einfachen Prager Leute, die ihm häufig Stoff für seine interessantesten Reportagen boten. Aber er erzählt nicht nur, sondern lässt auch erzählen. Wie etwa seinen Bekannten Modratschek, dem über die Jahre immer wieder Grüße von einem gewissen Genossen Lenin bestellt wurden. Modratschek, der sich als Gastgeber für Durchreisende der „Genossenschaftsbewegung“ anbot, glaubte immer wieder an einen Scherz. Doch als im Russischen Kaiserreich die Bolschewiken revolutionieren, erkennt er einen seiner ehemaligen Gäste auf einem Foto in der Zeitung wieder: Es ist Wladimir Iljitsch Lenin, der nach einer abgesessenen Haftstrafe für einige Zeit bei ihm unterkam und später seine Pakete von Modratschek in die russische Heimat senden ließ. Allerdings residierte der Revolutionär im Hause Modra­tschek unter einem anderem Namen – er nannte sich schlicht „Herr Mayer“.

Egon Erwin Kisch: Das Lied von Jaburek. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015, 144 Seiten, 15,90 Euro. ISBN 978-3-8031-1311-5