Am toten Punkt rot

Am toten Punkt rot

Die Kommunisten feiern ihr Comeback in den Regionen. Sehnen sich die Wähler nach alten Zeiten?

24. 10. 2012 - Text: Martin NejezchlebaText: Martin Nejezchleba; Foto: čtk

Herr Veselý ist besorgt. Die Sieben-Uhr-Nachrichten drückt er mit dem Daumen weg. Flachbildschirm samt Moderatorenstimme erlöschen. Draußen, in einem Prager Vorort, hallt das Bellen eines Hundes zwischen den Häuserfassaden. Der 70-jährige Rentner, der seinen wirklichen Namen lieber nicht verraten will, legt die Fernbedienung parallel zur Fernsehzeitschrift, schiebt seine Hornbrille zurecht und hebt die Stimme. „Haben die Leute denn alles vergessen“, fragt er rhetorisch. „1953 haben sie uns bei der Währungsreform beklaut. Nach zwei Jahren im Militär haben sie mir nahegelegt, ich solle die Ausbildung nicht im Betrieb meines Vaters machen. Hätte ich nicht auf sie gehört, wäre ich wohl im Untertagebau in Kladno gelandet.“ „Sie“, das sind die Kommunisten. Herr Veselýs Blick wandert zu seiner Frau. Die erzählt von leeren Lebensmittelregalen, vom jahrelangen Warten auf den Trabbi.

Jenseits real existierender Marktwirtschaft
Die Empörung der Eheleute Veselý hat ihren Grund: Über den Fernsehschirm flimmerte soeben ein Bericht über die Koalitionsverhandlungen nach den Regionalwahlen. Im Kreis Olomouc zeichnet sich die Zusammenarbeit der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens (KSČM) mit den Sozialdemokraten (ČSSD) ab. Ähnlich die Situation in Südböhmen. Im Kreis Ústí nad Labem verhandelt die KSČM über ein Bündnis mit der ČSSD und der rechtspopulistischen Regionalpartei „Severočeši.cz“. Dort, ebenso wie im westböhmischen Karlsbad soll nach den Vorstellungen der Wahlsieger von der KSČM zum ersten Mal ein roter Kreishauptmann regieren. Die sogenannte Bohumín-Resolution, also das selbstauferlegte Koalitionsverbot der Sozialdemokraten mit den Kommunisten stünde, so ČSSD-Chef Sobotka, nach den nächsten Parlamentswahlen zur Debatte.

Drohen erneut Verstaatlichung und Repression, so wie sich die Veselýs die Geschehnisse in ihren Fernsehsesseln zurechtgelegt haben? Wohl kaum, meint Politologe und Extremismus-Experte Miroslav Mareš: „Bereits in der vergangenen Legislaturperiode haben die Kommunisten zum Beispiel in Mittelböhmen mit den Sozialdemokraten zusammengearbeitet.“ Viel mehr  beunruhigt ihn, dass KSČM und ČSSD trotz ihrer Beteiligung an einem der größten Korruptionsskandale in der Geschichte der Tschechischen Republik – die Schmiergeldaffäre um Kreishauptmann David Rath (ČSSD) – die Wähler erneut überzeugen konnten. „Das deutet auf die enorme Intransparenz der Politik auf Kreisebene hin. Viele wissen noch nicht einmal, wer dort in den letzten vier Jahren regiert hat“, merkt der Politologie-Professor der Masaryk-Universität in Brünn an.

Bei der Lektüre des Wahlprogramms der kommunistischen Partei mit dem Kirschen-Logo sind keine der Slogans aus der Vorwendezeit zu finden. Vom „Schutz für kleine und mittelgroße Unternehmen“ ist dort die Rede. Der Parteivorsitzende Vojtěch Filip präsentiert seine Partei gerne als „soziale und grüne“ Alternative. Linkspopulismus jenseits der real existierenden Marktwirtschaft ist sein Programm: Mehrwertsteuer für Lebensmittel abschaffen, keine Anhebung des gesetzlichen Rentenalters bei erhöhten Rentensätzen. Nächste Seite: Sicherung der Demokratie, Unantastbarkeit der Freiheit von Meinung, Wissenschaft und Kunst. Nach erneutem Umblättern weht ein gänzlich anderer Wind. Man wolle zwar alternative Kultur und junge Lebensstile unterstützen, jedoch nur soweit diese einen „humanistischen Charakter“ haben. Zur Diskussion stünde eine Abschaffung der Beiträge für öffentlich-rechtliche Medien und deren direkte Finanzierung aus der Staatskasse. Was es mit dem Ausbau „digitaler Multiplexe“ auf sich hat, bleibt unklar.

Beobachter in Straßburg
Politikwissenschaftler Miroslav Mareš weiß, woher die schwammig-modernen Floskeln und die Inkonsistenz im Programm der Kommunisten rühren. „Die Partei teilt sich in mehrere Ströme. Um eine Außenwirkung als „moderne“ Linke bemühen sich die Reformer, die an die Tradition der sechziger Jahre anknüpfen“, so Mareš. Der Hauptstrom, zu dem auch Partei-Chef Filip gehört, ist pragmatisch ausgerichtet. Ihnen geht es vor allem um politischen Einfluss, eine Distanzierung vom Erbe der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) kommt für sie nicht in Frage. „Die KSČM hat es abgelehnt, vorzutäuschen, eine Partei ohne Vergangenheit zu sein“, so Filip. Das ultrakonservative Lager, das keinen Hehl aus seinem Wunsch nach einer Rückkehr zum real-existierenden Sozialismus macht, ist laut Parteienforscher zwar klein, innerhalb der Partei jedoch nicht unbedeutend.

Was also unterscheidet die KSČM von anderen europäischen Linksparteien? Laut Miroslav Mareš ist es gerade die totgeschwiegene Namensfrage, die symbolisch für den Charakter der Partei steht. Die Distanzierung von der totalitären Vergangenheit stand nie wirklich zur Debatte. „Die heutigen Mitglieder denken, positive Wahlergebnisse allein würden sie von ihrer KSČ-Vergangenheit reinwaschen“, sagt der Extremismus-Forscher. Auch deshalb haben die Tschechen in der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken in Straßburg lediglich einen Beobachterstatus inne.
Mit 20,4 Prozent bei den Kreiswahlen ist die KSČM auf Regionalebene zur zweitstärksten Kraft in Tschechien avanciert, knapp hinter den Sozialdemokraten, weit vor der ODS. Dennoch: Soziologen wie Politologen sind überzeugt davon, dass sich die wenigsten Tschechen tatsächlich ein kommunistisches Regime herbeisehnen. „Mit ihrer Stimme für die KSČM drücken viele ihren Protest aus“, meint Lukáš Linek vom Soziologischen Institut der Akademie der Wissenschaften.

Die bedeutendste Wählergruppe seien Senioren, die ihre politischen Ansichten noch in den Zeiten vor der russischen Besatzung gefestigt haben. „Sie wünschen sich weniger den Kommunismus zurück, sondern die Zeiten, in denen ihrer Meinung nach das Leben besser war“, so die Erklärung des Soziologen, der die politische Einstellung in Tschechien erforscht. Hohe Präferenzen haben die Kommunisten vor allem in Regionen mit einer hohen Arbeitslosigkeit. Sozial Schwache sähen in den Kommunisten vor allem eine Chance für bessere Lebensbedingungen – in ihren Augen haben bislang alle demokratischen Regierungsparteien  kläglich versagt.

Das Protest-Potential weiß die KSČM in Zeiten strikter Sozialkürzungen zu nutzen. Seine Partei werde dafür sorgen, „dass die Tschechische Republik den Weg aus der Krise findet, in die 22 Jahre der Herrschaft neoliberaler Theorien geführt haben“, wetterte Filip auf der Versammlung des Zentralkomitees der KSČM im September. Dass viele Wähler die KSČM aus Frust gewählt haben, darauf weist auch das vernichtende Ergebnis in der zweiten Runde der Senatswahlen hin. Nur einer von acht kommunistischen Senatoren konnte sich bei der Stichwahl durchsetzen.

Blinder Hass
Die Frage nach dem verlorenen Gedächtnis, die Herr Veselý in seinem Wohnzimmer stellt, kann Soziologe Linek nicht eindeutig beantworten. „Die kollektive Erinnerung an den Kommunismus gibt es nicht“, erklärt der Wissenschaftler. „Vielmehr gibt es mehrere Diskurse und es gibt eben auch linksgerichtete Wähler, die denken, dass früher so manches viel besser funktioniert hat.“

Auf die Mehrheitsmeinung weist der Politologe Zdeněk Zbořil hin:„Überall wird blind auf die Kommunisten geschimpft. Die Jungen lernen ja teils gar nicht mehr, was denn ein Kommunist ist, sie lernen nur, sie zu hassen.“ Rechts- und Mitte-Rechts-Parteien nutzen das rote Schreckgespenst, um Wähler zu mobilisieren. Mitte-links oder links zu wählen, ist für einen Großteil der jungen Wähler tabu. Angesichts anhaltender politischer Krisen, Korruptionsaffären und fragwürdiger Ergebnisse der Regierungspolitik wissen viele nicht mehr weiter – sie bleiben am Wahltag zu Hause und lassen das Tabu links liegen.

Viele politische Beobachter teilen die Sorgenfalten auf Herrn Veselýs Stirn. Nicht, weil sie die Rückkehr zu totalitären Verhältnissen fürchten. Die Wahlergebnisse aber zeigen, dass die tschechische Nachwende-Politik an einem toten Punkt angelangt ist. Ein Ausweg ist bislang nicht in Sicht.