Am Wendepunkt
75 Jahre nach der Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei steht die Landsmannschaft vor großen Herausforderungen
31. 5. 2020 - Text: Petr Jerabek, Titelbild: Sudetendeutscher Tag 2011 © Emkaer, CC BY-SA 3.0
Eine Zeitlang war ihnen ihr Hobby ein bisschen peinlich. „Ich fand es früher sehr schwierig, darüber zu sprechen“, gibt Stefanie Januschko zu. „Ich habe dann rumgedruckst und gesagt: Ich bin in einer Tanzgruppe.“ Und Zwillingsschwester Elisabeth erzählt, als Kind habe sie die Tracht der Böhmerwäldler zeitweise gar nicht gern angezogen. „Da musste die Mama mich reinstecken.“ Schon mit drei Jahren gingen Elisabeth und ihre Zwillingsschwester Stefanie alle zwei Wochen zu Sing- und Volkstanz-Treffen der Böhmerwaldjugend in München.
Heute sind sie 23 – Elisabeth steht als Bundesjugendleiterin an der Spitze der Böhmerwaldjugend, Stefanie ist stellvertretende Vorsitzende der Dachorganisation Sudetendeutsche Jugend. Die Zwillinge aus Puchheim bei München versuchen, die Kultur ihrer Groß- und Urgroßeltern am Leben zu halten, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden.
An diesem Pfingstwochenende wollten Tausende Sudetendeutsche an den Beginn der Vertreibung vor 75 Jahren erinnern: beim Sudetendeutschen Tag in Regensburg. Auch die Januschko-Schwestern wären dabei gewesen. Nicht, um politische Reden zu hören, unter anderem vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU). Sondern um bei der Bewirtung mitzuhelfen, um Freunde und Bekannte zu treffen, um in Tracht zu tanzen.
Wegen der Corona-Pandemie musste das traditionelle Pfingsttreffen der Heimatvertriebenen aber abgesagt werden. „Ich finde es ein merkwürdiges Gefühl, weil das gehört einfach zum Jahresablauf dazu“, sagt Stefanie. Schon von klein auf waren die Zwillinge regelmäßig beim Sudetendeutschen Tag. „Unsere Eltern haben sich in der Böhmerwaldjugend kennengelernt, und unsere Großeltern waren auch schon aktiv“, schildert Elisabeth.
Wie die Januschko-Schwestern sind auch die meisten ihrer Mitstreiter über die Familie zur Sudetendeutschen Jugend gekommen. „Gerade in unserem Alter sind die meisten dabei, weil ihre Eltern auch dabei sind“, sagt Elisabeth. „Es gibt sehr, sehr wenige, die als Jugendliche oder als Kind dazugekommen sind, ohne sudetendeutsche Wurzeln zu haben.“ Stefanie stimmt zu: „Von außen neue Leute dazuzuholen, ist schwierig.“
Und da naturgemäß im Laufe der Jahre immer wieder Mitglieder wegbleiben, schrumpft der sudetendeutsche Nachwuchs seit Jahren. Früher habe es bei der Böhmerwaldjugend noch Kindergruppen gegeben, zum Beispiel in München und Ellwangen, erläutert Elisabeth. „Die gibt’s nicht mehr.“ Laut Stefanie hat die Sudetendeutsche Jugend zwar immer mal wieder ein bisschen Nachwuchs, „aber es geht schon auch zurück“.
Bernd Posselt, Sprecher und damit oberster Repräsentant der sudetendeutschen Volksgruppe, versichert, ihm sei um die Zukunft der Sudetendeutschen Landsmannschaft trotzdem nicht bange. Bei der Jugend komme erstaunlich viel nach, „vor allem bei den Aktiven“, versichert der CSU-Europapolitiker.
Auch nach 75 Jahren kämen die Menschen zum Glück immer noch in Scharen zum Sudetendeutschen Tag. Aber er räumt ein: „Natürlich wird das weniger.“ Früher hätten fast alle Sudetendeutschen einem Heimatkreis oder einer Vertriebenen-Organisation angehört, „weil sie einfach betroffen waren“, sagt Posselt. Heute müssten junge Menschen sich entschließen, ihre Wurzeln anzunehmen und sich zu engagieren. „Aber die sind dann auch aktiv. Und das sind nicht mehr Hunderttausende, aber es sind noch Tausende.“
Dennoch befinden sich die Landsmannschaft und andere Vertriebenenverbände an einem Wendepunkt: Der Anteil der Menschen aus der Erlebnisgeneration wird kleiner und kleiner. Immer weniger Frauen und Männer können aus eigener Erfahrung die Umstände der Vertreibung schildern. „Worum ich mir ein bisschen Sorgen mache“, sagt Posselt, „das ist die Gedächtniskultur, die natürlich im Sinne eines ,Nie wieder‘ und nicht im Sinne eines Offenhaltens von Wunden weiter gepflegt werden muss.“ Der Europapolitiker hofft zwar, dass es bei den Sudetendeutschen noch etliche Jahre „eine aktive Erlebnisgeneration“ geben wird. Irgendwann müsse die Gedächtniskultur aber von der jüngeren Generation übernommen werden, betont er.
Posselt bemüht sich seit Jahrzehnten nach Kräften, das einstige Image der Sudetendeutschen als Ewiggestrige zu korrigieren. „Diese alte Haltung, wir seien alles Revanchisten, mag es noch da und dort in der Gesellschaft geben. Aber ich glaube, sie ist weitgehend abgebaut.“ Der 63-Jährige will die Sudetendeutschen als Brückenbauer zwischen Deutschen und Tschechen verstanden wissen, als „Motor der Völkerverständigung“. Er selbst setzt sich unermüdlich für diese Verständigung zwischen beiden Völkern ein.
Dazu sollte auch der Sudetendeutsche Tag wieder einen Beitrag leisten. Auch zahlreiche tschechische Gäste wären gekommen. Die Absage ist Posselt sehr schwer gefallen. „Es ist zum ersten Mal seit 46 Jahren, dass ich an Pfingsten keinen Sudetendeutschen Tag habe“, schildert er. „So geht es natürlich Tausenden und Abertausenden Menschen.“ Insbesondere für die ältere Generation sei es sehr schwer, dass es ausgerechnet in diesem Jahr kein Pfingsttreffen gebe, da sich der Beginn der Vertreibung zum 75. Mal jähre: 1945 kamen laut Posselt zunächst „die großen Massaker, Todesmärsche und die sogenannte wilde Vertreibung“, die Masse der rund drei Millionen Sudetendeutschen sei dann 1946 vertrieben worden.
An zwei Forderungen, die bis heute für so manchen tschechischen Politiker ein rotes Tuch sind, hält der Vertriebenen-Funktionär weiter fest. Er verlangt die Abschaffung der Beneš-Dekrete, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage für die Enteignung und Vertreibung der Sudetendeutschen waren. „Sie sind nach wie vor so viel Unrecht wie bisher“, betont Posselt. Und er pocht auf ein „Recht auf die Heimat“: Seiner Meinung nach sollte es „zur Grundlage der internationalen und europäischen Rechtsordnung gemacht werden, kombiniert mit einem Vertreibungsverbot“.
Wie unpopulär trotz aller Fortschritte im deutsch-tschechischen Verhältnis diese Positionen im Nachbarland sind, zeigte vor wenigen Monaten eine Meinungsumfrage: Demnach findet mehr als jeder zweite Tscheche, dass die Beneš-Dekrete gültig bleiben sollten, für eine Abschaffung sind gerade mal 13 Prozent. Zudem halten 41 Prozent die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Krieg für gerecht. Posselt lässt sich von solchen Nachrichten nicht entmutigen. Er sei nicht besonders umfragegläubig, sagt er. „Ich bin ja nun viel drüben unterwegs, und ich glaube nicht, dass es so krass ist, wie es in dieser Umfrage zum Ausdruck kommt.“
Die Januschko-Schwestern können mit Schlagwörtern wie „Recht auf Heimat“ wenig anfangen. Zwar besuchten sie schon die früheren Wohnorte ihrer Großeltern. Einen Heimatbezug zum Böhmerwald habe sie aber nicht, sagt Elisabeth. Für die Zwillinge stehen bei ihrem Engagement die Gemeinschaft, die europäische Verständigung und vor allem die Kultur im Vordergrund – Volkstanz, Musik, Trachten. Elisabeth spielt Gitarre und Mandoline, Stefanie Akkordeon und Klavier, immer wieder treten sie gemeinsam auf Veranstaltungen der Sudetendeutschen auf. Anfang des Jahres wurden sie mit einem der Kulturellen Förderpreise der Landsmannschaft ausgezeichnet.
Die beiden Studentinnen sind zuversichtlich, dass die Vertriebenen-Organisationen trotz Mitgliederschwund eine Zukunft haben. Die Struktur der Vereine werde sich verändern, sagt Stefanie, „aber sie werden schon noch bestehen bleiben“. Elisabeth sieht das ähnlich. Die großen Bundestreffen würden irgendwann vielleicht nicht mehr oder anders stattfinden. „Aber es sind noch immer einige Leute dabei, die da wirklich Herzblut reinstecken. Deswegen mache ich mir noch nicht so viele Gedanken.“ Die Zwillinge wollen jedenfalls auch weiterhin einen Beitrag dazu leisten, dass das kulturelle Erbe der Sudetendeutschen gepflegt wird, wie Stefanie versichert: „Für mich ist es wichtig, dabeizubleiben und vielleicht später auch mal Familie dahin mitzunehmen.“
Es ist unsere grosse tschechische Schande, die Benes-Dekrete sind immer gültig:-(