An einer Kreuzung der Literaturgeschichte

An einer Kreuzung der Literaturgeschichte

Vladislav Vančura gilt als Meister der kunstvollen Hochsprache. In diesem Jahr hätte er seinen 125. Geburtstag gefeiert

13. 7. 2016 - Text: Jan NechanickýText: Jan Nechanický; Foto: ČTK

Vor dem Werk von Vladislav Vančura, urteilte sein Schriftstellerkollege Milan Kundera, fühle man sich wie an einer Kreuzung der Literatur­geschichte. „Als würden durch dieses Werk, wie früher durch das mährische Tiefland, alle Wege führen, die West und Ost, Nord und Süd, Vergangenheit und Zukunft verbinden.“

Vančura gilt als einer der bedeutendsten Prosaisten der tschechoslowakischen Avantgarde der zwanziger und dreißiger Jahre; manche Kritiker bezeichnen ihn sogar als „einen der wenigen hervorragenden tschechischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“ und als großen Romancier, der von Balzac und Dickens gelernt habe, vor allem aber durch die Schule des Lebens gegangen sei.

Dass er im Ausland eher unbekannt blieb, mag auch an der Sprache Vančuras liegen, die Übersetzern viel Zeit und Mühe abverlangt. Bis heute steht sein Name im Tschechischen für die kunstvollste Hochsprache und „Vančursches Tschechisch“ gilt als hohes Lob. „Über die Geheimnisse der Wortkunst weiß Vladislav Vančura mehr als wir alle zusammen. Deswegen: Hut ab vor ihm“, schrieb der berühmte Literaturkritiker František Xaver Šalda.

Dabei kam Vančura erst über Umwege zur Literatur. Als Sohn eines Beamten kam er 1891 in Háj bei Opava (Freiheitsau bei Troppau) zur Welt. Als er sieben Jahre alt war, zog die Familie nach Davle in der Nähe von Prag. Dort besuchte Vančura das Gymnasium auf der Kleinseite.

Nach vier Jahren verließ er jedoch die Schule und lernte Buchhändler. Später begann er eine Lehre als Fotograf und bewarb sich beim Maler Hanuš Schwaiger erfolglos um einen Studienplatz an der Kunst­akademie in Prag.

Im Jahr 1915 legte Vančura schließlich doch das Abitur ab und studierte Jura. Nach einem Semester wechselte er zu Medizin. Das Studium beendete er 1921. Im selben Jahr heiratete er seine Studienkollegin Ludmila Tuhá, mit der in Zbraslav bei Prag eine Arztpraxis gründete. Ludmila Vančurová verewigte später ihr Zusammenleben in der Biographie „Dvacet šest krásných let“ („Sechsundzwanzig schöne Jahre“).

Vorsitzender des „Devětsil“
Die ersten literarischen Versuche unternahm Vančura um 1910. Ab Ende der zwanziger Jahre widmete er sich hauptsächlich dem Schreiben. Mit Literaten und Kunsttheoretikern wie Jaroslav Seifert und Karel Teige gründete er 1920 den avantgardistischen Künstlerbund „Devětsil“, dessen erster Vorsitzender er wurde. Vančura reiste viel; 1924/25 besuchte er Paris, 1926 Kairo, 1927 mit einer Schriftsteller-­Delegation Moskau. Er war vom Film fasziniert und arbeitete mit einem Filmstudio zusammen, wo er als Regisseur und Drehbuchautor wirkte.

Zudem engagierte sich auch politisch. Er war Mitglied der Kommunistischen Partei, aus der er jedoch 1929 ausgeschlossen wurde. Grund dafür war seine öffentliche Kritik am moskau­hörigen Kurs der neuen Parteiführung unter Klement Gottwald. Ab 1939 gehörte Vančura dem Widerstand an. Nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich wurde er verhaftet und am 1. Juni 1942 in einem Prager Gefängnis erschossen.

Allein die Biographie Vančuras beweist, dass er ein unkonventioneller Mensch war, der viele Wege ausprobierte und sich nicht durch Vorbilder oder Regeln einschränken ließ. Bereits die frühen Erzählungen in der Sammlung „Amazonský proud“ („Der Strom Amazonas“) verraten Einflüsse moderner Kunstströmungen wie des Kubismus, Expressionismus und Poetismus. Vančura verzichtete oft auf konventionelle Schilderungen und traditionelle Strukturen und versuchte mithilfe der Sprache Bilder zu entwerfen. So erinnern seine Erzählungen eher an Prosagedichte. Er wollte jedoch die Epik nicht lyrisieren, sondern sie durch Bilder intensivieren.

Seine ersten zwei Romane weisen starke gesellschafts­kritische Tendenzen auf. Diese Dimension von Vančuras Werk hat sich vor allem die Literaturkritik im Sozialismus zu eigen gemacht – und es darauf reduziert. Das war etwa bei „Pekař Jan Marhoul“ („Der Bäcker Jan Marhoul“) der Fall, den man zu den „Meisterstücken“ der tschechischen sozialistischen Literatur zählte. Jan Marhoul, ein rechtschaffener Bäckermeister in der böhmischen Provinz, der sich an seiner Arbeit erfreut, scheitert am Ende, weil er glaubt, dass die Welt genauso gut ist, wie er selbst. Dass der Roman viel mehr ist als Kapitalismuskritik, passte nicht in die Begrifflichkeiten des Klassenkampfs und ins ideologische Raster. Doch auch in diesem Werk sind avantgardistische Tendenzen erkennbar, auch hier versucht Vančura, Bilder zu schaffen und verzichtet absichtlich auf ausführliche Schilderungen psychologischer Prozesse. Stattdessen wendet er Pathos und Groteske an, um einprägsame Bilder zu entwerfen, die seine Botschaften vermitteln.

Groteske Dimension
Auf ähnliche Art ist Vančuras Kriegsroman „Pole orná a válečná“ („Felder und Schlachtfelder“) ein literarisches Formen­experiment. Fragmentarisch und scheinbar chaotisch erzählt er über die Zeit des Ersten Weltkriegs und schildert am Beispiel des Zerfalls eines österreichischen Adelsgeschlechts den Unter­gang einer Epoche.

Die groteske Dimension seiner frühen Werke entwickelte Vančura in seinem Prosastück „Rozmarné léto“ („Launischer Sommer“), der von Jiří Menzel verfilmt wurde und der in Tschechien zu seinen beliebtesten Werken zählt.

Eine gewisse Rückkehr zu traditionellen Erzählformen stellen seine Romane aus der ersten Hälfte der dreißiger Jahre dar, in denen er die Handlungslinien wieder stärker betont. Auch thematisch sind diese Werke verwandt. Indem er „alte Tugenden“ wie Liebe und Tapferkeit verherrlicht, kritisiert Vančura indirekt die Gegenwart, die er damals als heuchlerisch und weichlich empfand.

Neben dem Schwank „Konec starých časů“ („Ende der alten Zeiten“) steht der Mittelalter-­Roman „Markéta Lazarová“ („Die Räuberbraut Margarete Lazar“) im Vordergrund dieser Epoche. Die Variation der Geschichte vom Kampf der Montagues und Capulets und einer Liebe, die zwischen den verfeindeten Parteien Platz findet, wurde später von František Vláčil verfilmt. So wie Vančuras literarische Werke eine Kreuzung der europäischen Literaturgeschichte sind, ging auch Vláčils Verfilmung – in einer Linie mit Tarkowskis „Andrej Rubljow“ oder Bergmanns „Siebentem Siegel“ – in die Geschichte des europäischen Kinos ein.

Vančuras letztes Projekt war eine Gesellschaftsbiografie. Die „Bilder aus der Geschichte der tschechischen Nation“ konnte er jedoch nicht mehr beenden. Vančura war ein Autor, der viel schrieb und dem seine Sprache ungeheuer wichtig war. Ein Schriftsteller, der viele Formen ausprobierte, der aber bei keiner von ihnen blieb und ständig versuchte, literarische Gattungen durch ihre Verschmelzung und Anwendung neuer Methoden zu bereichern.


Vladislav Vančura auf Deutsch – eine Auswahl
Der Bäcker Jan Marhoul. Mit Erinnerungen an Vančura von Jaroslav Seifert. Aus dem Tschechischen von Peter Pont, DVA, Stuttgart/München 2000

Marketa und Miklas. Aus dem Tschechischen von Josef Hahn, DVA, Stuttgart 1966

Launischer Sommer. Aus dem Tschechischen von Gustav Just, Rütten & Loening, Berlin 1971

Das Ende der alten Zeiten. Aus dem Tschechischen von Julius Mader und Franz Peter Künzel, Rheinische Verlags-Anstalt, Wiesbaden 1966

Der Messerschleifer: Novellen. Aus dem Tschechischen von Gustav Just, Reclam, Leipzig 1985

Räuberballade. Aus dem Tschechischen von Franz Peter Künzel, Rütten & Loening, Berlin 1962

Der Roman Felder und Schlachtfelder erscheint im Herbst 2016 im Arco-Verlag.