Auf dem Weg zur Normalität
Zwischen Vergangenheitsbewältigung und aktueller Sachpolitik: Premier Sobotka zu Besuch in Bayern
15. 3. 2016 - Text: Petr JerabekText: Petr Jerabek; Foto: Bayerische Staatskanzlei
Es standen Mikrofone für beide Politiker bereit, doch Horst Seehofer (CSU) hielt sich an diesem „Ort der Schande“ weitgehend im Hintergrund. „Ich konnte gerade erleben, dass ihn diese Örtlichkeit besonders berührt und betroffen macht“, sagte der bayerische Ministerpräsident mit Blick auf seinen Gast aus Prag lediglich und überließ diesem das Reden vor der erst kürzlich enthüllten Gedenktafel, die an die Unterzeichnung des Münchner Abkommens erinnert. Als erster tschechischer Regierungschef besuchte Bohuslav Sobotka (ČSSD) vergangene Woche die heutige Hochschule für Musik und Theater in München – den einstigen „Führerbau“, in dem 1938 die Zerschlagung der Tschechoslowakei besiegelt wurde.
Bis heute steht dieser Ort für eines der größten Traumata der tschechischen Geschichte, für das Gefühl, Spielball fremder Interessen zu sein. Das Schicksal der Tschechoslowakei wurde hier von den europäischen Großmächten besiegelt, ohne dass ein Vertreter des Landes an den Beratungen teilnehmen durfte. So ist bis heute vom „Münchner Diktat“ die Rede, vom „Verrat des Westens“. Auf den Ausruf „o nás bez nás“ („ohne uns über uns“) greifen Politiker und Medien bis heute gern zurück, wenn sie hinter Entwicklungen in Europa einen neuen Verrat wähnen.
Sobotka aber bewegte der Besuch der geschichtsträchtigen Stätte zu einem eindrucksvollen Plädoyer für ein vereintes Europa. „Die Tschechen wurden hier im Jahr 1938 nicht an den Verhandlungstisch gelassen“, sagte er vor zahlreichen Journalisten. Dass „wir heute gemeinsam an einem Tisch (…) im Rahmen der Europäischen Union sitzen“, sei der beste Weg, um zu verhindern, dass erneut über ein europäisches Volk in Abwesenheit verhandelt werde. Auch wenn es eine Reihe von Gründen gebe, mit Europa unzufrieden zu sein, „so ist seine Bedeutung für die friedliche Zusammenarbeit der Völker unbestreitbar“.
Große Geste
Wie schon bei Seehofers Reise nach Tschechien 2011 und dem Gegenbesuch des damaligen Premiers Petr Nečas 2013 war auch bei Sobotkas zweitägigem Aufenthalt in München die Besichtigung historischer Gedenkorte ein zentrales Element des Programms: eine Kranzniederlegung zur Erinnerung an die Mitglieder der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ in der Universität, ein Rundgang durch das NS-Dokumentationszentrum und schließlich der Besuch des ehemaligen Führerbaus.
Eine große Geste Sobotkas folgte am zweiten Tag der Reise: Im bayerischen Landtag zeichnete der tschechische Premier mit Olga Sippl eine Sudetendeutsche mit der Karel-Kramář-Medaille aus: die Ehrenvorsitzende der Seliger-Gemeinde, der Gesinnungsgemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten. Eine Geste, die vor wenigen Jahren wohl noch undenkbar gewesen wäre. Sobotka würdigte Sippls lebenslanges Engagement für die Versöhnung von Tschechen und Deutschen. Er sei sich dessen bewusst, dass viele „unserer einstigen deutschen Landsleute“, die der Tschechoslowakei treu geblieben seien und sich dem Nationalsozialismus entgegengestellt hätten, „statt Anerkennung und Dankbarkeit Leid im Zusammenhang mit der Vertreibung“ der deutschen Bevölkerung erfahren hätten.
Der starke Fokus der Reise auf die Geschichte zeigt, dass nach all den Jahrzehnten angespannter Beziehungen, dem Streit über die Vertreibung und die Beneš-Dekrete eine völlige Normalität im bayerisch-tschechischen Verhältnis nach wie vor nicht eingekehrt ist: Es gibt noch einiges nachzuholen bei der Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte. Die Gesten beider Seiten sind zugleich aber Beleg dafür, wie entschlossen Bayern und Tschechen auf dem Weg zur Normalität voranschreiten.
Das Hauptaugenmerk der Kontakte gilt freilich den politischen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. So stand am Anfang von Sobotkas Besuch auch die Sachpolitik, die Vertiefung der Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, beim Umweltschutz und der inneren Sicherheit. 75 Minuten lang tauschten sich Sobotka und Seehofer im Prinz-Carl-Palais hinter verschlossenen Türen aus. Großen Raum nahm dabei der überfällige Ausbau der grenzüberschreitenden Verkehrsinfrastruktur ein, insbesondere der Schienenverbindung von Prag nach München und nach Nürnberg.
Beide Politiker erklärten eine schnelle Zugverbindung zum vorrangigen Ziel für die nächsten Jahre. Sobotka verwies darauf, dass Tschechien viel in die Verkehrswege investiere und sich ein ähnliches Engagement auch auf deutscher Seite wünsche. „Aus bayerischer Sicht ist es unbefriedigend, dass Tschechien hier weiter ist“, räumte Seehofer ein.
Abstrakte Antwort
Für die bayerisch-tschechischen Beziehungen waren beide Spitzenpolitiker voll des Lobes, Seehofer sprach gar von einer „echten Freundschaft“. Große Einigkeit demonstrierten sie auch bei ihren Statements in der Flüchtlingspolitik. Der Prager Sozialdemokrat scheint dem Münchner Christsozialen bei diesem Thema derzeit näherzustehen als die christdemokratische Kanzlerin in Berlin. Dabei ist die Ausgangslage in Bayern und Tschechien sehr unterschiedlich. Während im Freistaat in den vergangenen Monaten Zehntausende Flüchtlinge untergekommen sind, will der östliche Nachbar selbst die festgelegten 2.691 Migranten nur zähneknirschend aufnehmen.
Als Sobotka in München sowohl von deutschen als auch von tschechischen Journalisten auf diese niedrige Zahl angesprochen wurde, übte sich der Premier in der diplomatischen Kunst, wortreich eine Antwort schuldig zu bleiben. Der angestrebten europäischen Lösung müssten alle 28 EU-Staaten zustimmen, auch wenn sie in dieser Frage unterschiedliche Positionen vertreten, sagte Sobotka abstrakt. Gastgeber Seehofer leistete Interpretationshilfe: Er habe den Premier so verstanden, dass für ihn eine europäische Lösung auch die Solidarität aller EU-Mitglieder beinhalte, so der CSU-Chef. Sobotka nickte kurz – und sagte dazu nichts mehr.
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“