Auf den Spuren der Boheme

Auf den Spuren der Boheme

Die Stadt erwacht aus dem Winterschlaf. Ein Spaziergang durch Vršovice und Vinohrady

23. 3. 2016 - Text: Katharina WiegmannText: Katharina Wiegmann; Foto: Ondrej Janků, Richard Hodonicky und APZ

Ein unkonventioneller Lebensstil am Rande der Gesellschaft, Freiheit im Geist, Leidenschaft für Kunst, Musik, Literatur. All das verbindet die kleine Gruppe, die sich am oberen Ende der Krymská-Straße versammelt hat, mit dem Begriff Boheme. Dass diese ihre Ursprünge tatächlich in Böhmen haben könnte, wo ihre Prager Vertreter sich im 20. Jahrhundert über die bürgerliche Gesellschaft mokierten, darüber klärt Tourguide Niki bei einem Rundgang durch den Stadtteil Vršovice und Teile des angrenzenden Vinohrady auf.

„Passt auf, wo ihr hintretet“, warnt der Finne, als sich die Gruppe in Bewegung setzt. Noch immer ist Vršovice nicht das aufgeräumteste Viertel, auch wenn hier derzeit fast monatlich schicke Lokale eröffnen. Die jüngsten Zuzügler sind eine Craft-Beer-Bar und ein Asian-Fusion-Restaurant. Die Entwicklung zur Ausgehmeile ist relativ neu. Der Deutsche Mathias Schwender war vor zehn Jahren einer der ersten, der sich mit einer Geschäftsidee ins Viertel traute. „Die Leute sprachen damals von einem Fluch, der auf Vršovice laste – kein Betrieb könne hier überleben.“ Er eröffnete trotzdem ein Hostel in einem alten Jugendstilgebäude. Es sind auch seine Gäste, die heute an den Tischen der zahlreichen Cafés Zigarettenrauch in die Luft blasen. Die Boheme in Vršovice ist mittlerweile international.

Pionierstatus in mehrfacher Hinsicht hat das Café V lese. Sein markantes Logo in Form einer Kaffeetasse erinnert angeblich an den ersten Warmwassertank eines Prager Bordells, das sich früher in dem Haus befand, erzählt Niki, der bei Prague Urban Adventures thematische Stadtführungen anbietet. Seit 2010 finden im Café V lese fast jeden Abend Konzerte statt.

Es geht weiter die Kopfsteinpflaster-Gasse hinab. Für Prag sind die eng aneinander gebauten Häuser eher niedrig: Vršovice hat sich eine Art dörflichen Charme erhalten, der sich auch im engen Zusammenhalt der Nachbarn zeigt. Mehrmals im Jahr werden hier gemeinsame Feste gefeiert, man grüßt sich auf der Straße.  

Öffentliche Bibliothek im Herold-Park

Das Prager Kreuzberg
Unten, wo die Krymská eine Biegung in Richtung Moskevská-Straße macht, ballen sich auf engstem Raum eine Cider-Bar, die Design-Buchhandlung Baobab, das Textilatelier Strojovna und das Café Zenit, deren Inhaberin die bekannte tschechische Schriftstellerin Petra Hůlová ist. Die Touristen in der Gruppe schauen verzückt – dank Niki haben sie das Prager Kreuzberg entdeckt. Für die einheimischen Teilnehmer der Stadtführung war bisher nicht viel Neues dabei. Der Krymská-Hype nervt einige schon fast. Die Globalisierung der Boheme bringt auch eine gewisse Gleichmacherei in den Kreuzbergs und Montmartres dieser Welt mit sich.

Eine Zeitreise in das Prag des 19. und 20. Jahrhunderts beginnt an diesem Nachmittag mit der Überquerung der Ruská-Straße, der Grenze zwischen Vršovice und Vinohrady. Die Königlichen Weinberge, wie Vinohrady einst genannt wurde, waren zeitweise die Heimat des berühmten Journalisten, Dramaturgen und Schriftstellers Karel Čapek, in dem manche einen Begründer des Science-Fiction-Genres sehen, zumindest aber einen Visionär, der sich schon früh mit dem Verhältnis von Mensch und Maschine auseinandersetzte: Das Wort Roboter ist seine Erfindung.

Die Villa, die er mit seinem Bruder Josef bewohnte, steht in der heute nach ihnen benannten Straße (Bratří Čapků 28–30). Der Weg dorthin führt an der Hussiten-Kirche am Bezruč-Park vorbei, die, wie Niki der Gruppe erklärt, eine wichtige Rolle im Prager Aufstand im Mai 1945 spielte. Ihr Glockenturm sei damals zum Radiosender umfunktioniert worden, erzählt der Finne, von hier aus hätten die Aufständischen Durchhalte­parolen verbreitet. Auf seinem Mobiltelefon hat er Bilder der Barrikaden im Viertel gespeichert, die während des Kampfes gegen die Nationalsozialisten errichtet wurden. In der nahegelegenen Sázavská-Straße stand einst die größte Synagoge der Stadt, die die Okkupation fast überstanden hätte. Sie diente den Nazis als Depot für entwendetes jüdisches Eigentum. In den letzten Kriegsmonaten wurde sie von alliierten Kampfflugzeugen versehentlich bombadiert und brannte nieder.

Die Schleife zurück ins Herz von Vršovice führt vorbei an Mosaiken einer lokalen Künstlergruppe, die das Stadtviertel seit Jahren mit Werken aus zerbrochenen Fliesen verziert, an einem Architekturmix aus Art Nouveau und Neogotik, bis in den Herold-Park (Heroldovy sady), an dessen Ende die „Rangherka“ auf einem Hügel thront, eine ehemalige Seidenmanu­faktur, in der auch Raupen gezüchtet wurden.

Anarchisten und Kängurus
Niki macht auf der Terasse des imposanten Gebäudes auf einen weiteren bekannten Sohn des Viertels aufmerksam: den Schriftsteller Jaroslav Hašek, Schöpfer des „braven Soldaten Schwejk“. Hašeks Leben war eine Art gelebte Satire, er schrieb in einer bisweilen vulgären Volkssprache, war Anarchist, hatte keinen Respekt vor Autoritäten und starb mit nur 39 Jahren an Tuberkulose, geschwächt durch langjährigen Alkoholkonsum.

Der Fußballclub Bohemians steht für Antifaschismus. Sein Wappen ziert seit 1927 ein Känguru.

Von der Terasse der Rangherka aus sind auch die Scheinwerfer des Stadions von einem der beiden Fußballvereine des Viertels sichtbar. Die Bohemians haben hier starken Rückhalt; als der Verein kurz vor der Pleite stand, spendeten die Fans. Erklärter Antifaschismus und Antirassismus macht die Bohemians zu einer Besonderheit im tschechischen Fußball, ebenso wie das Känguru im Logo. 1927 unternahm die Mannschaft eine Tournee nach Australien, wo die Spieler von der Regierung ein Beuteltier-Paar überreicht bekamen – als Geschenk für Staatspräsident Tomáš Garrigue Masaryk. Die Reise wurde in der Vereinsgeschichte zum identitätsstiftenden Moment, das Känguru zum Wappentier. Es beschleicht einen langsam das Gefühl: Eine gewisse Verschrobenheit gehört in Vršovice wohl zum guten Ton.

Und vielleicht haben all die Schriftsteller, Erfinder, Anarchisten und Fußballer sich im Laufe der Zeit auch hier getroffen: im Grébovka-Park (Havlíčkovy sady) zwischen den Weinreben, der Endstation der Tour. Es ist der erste Tag des offenen Weinverkaufs und trotz Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt sitzen alte Damen, Schüler und Paare auf Bänken und Treppenstufen und schauen auf ihre Stadt, die in ein zart vio­lettes Sonnenuntergangslicht getaucht ist. Für Freigeister und Genießer ist Prag immer noch ein guter Ort.