Auf der Seite der Geschlagenen
Zum Tod des deutsch-tschechischen Schriftstellers Ota Filip
6. 3. 2018 - Text: Marcus Hundt, Foto: Nakladatelství HOST
Exilliterat, Dissident, Brückenbauer. Mit diesen drei Worten könnte man Ota Filip beschreiben. Und so wird er den meisten wohl in Erinnerung bleiben. Dabei war Filip auch Lkw-Fahrer, Bergarbeiter, Möbelmonteur und arbeitete auf dem Bau. Damit teilte er das Schicksal vieler Systemkritiker in der ehemaligen Tschechoslowakei.
Geboren 1930 im mährisch-schlesischen Ostrava, wuchs Filip als Kind eines tschechischen Konditors und einer polnischen Opernsängerin in einer multikulturellen Gesellschaft auf – und lernte von klein auf drei Sprachen (Tschechisch, Polnisch, Deutsch). Dieses Umfeld, aber auch das Spannungsverhältnis zu seinem Vater, der mit den deutschen Besatzern kollaborierte und dafür nach Kriegsende ins Gefängnis kam, beschäftigten ihn zeit seines Lebens.
Seine Kindheit und Jugend im Grenzland zu Polen und dem damaligen Deutschen Reich lieferten Filip den Stoff für gleich mehrere Romane. „Das Café an der Straße zum Friedhof“ („Cesta ke hřbitovu“, 1968) und „Die Himmelfahrt des Lojzek Lapáček aus Schlesisch Ostrau“ („Nanebevstoupení Lojzka Lapáčka ze Slezské Ostravy“, 1973), die Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre erschienen, machten ihn in seiner Heimat berühmt. Und auch noch im hohen Alter ließen Filip die Erinnerungen nicht los, bereiteten ihm sogar schlaflose Nächte: An einem Junitag 2015 rief er in der Redaktion der „Prager Zeitung“ an, erzählte dem Chefredakteur mit aufgeregter Stimme von einem Erlebnis kurz vor Kriegsende 1945 und bat ihn darum, seinen Text dazu zu veröffentlichen. Eine Einheit der Gestapo erschoss damals acht Pfadfinder, darunter zwei Freunde von ihm. „Ich habe ihr tragisches Schicksal nicht verdrängt, jedoch nie den Mut gefunden, die Seite 54 in meinem Tagebuch aufzuschlagen (…) und mich für meinen Eintrag zu schämen“, heißt es in dem Artikel.
Die kurze Freiheit
Nach dem Abitur an einem Gymnasium im Prager Stadtteil Žižkov (1948) und einem Literatur- und Journalistik-Studium an der Karls-Universität arbeitete Filip als Redakteur für mehrere Zeitungen und beim Tschechoslowakischen Rundfunk in Pilsen. Anfang der sechziger Jahre schrieb er „Das Café an der Straße zum Friedhof“. Allerdings konnte sein erster Roman wegen „unbotmäßiger Kommentare“ erst während des „Prager Frühlings“ erscheinen. Die Freiheit des Wortes währte nur kurz. Da Filip das Ende der Reformbewegung im August 1968 öffentlich kritisiert hatte, durfte er nicht mehr publizieren. Sein zweiter Roman „Ein Narr für jede Stadt“ („Blázen ve městě“, 1969) – eine Fortsetzung seines Debüts – erschien daher im Ausland: auf Deutsch bei S. Fischer in Frankfurt, die tschechische Ausgabe erst 1975 in Zürich. Darin kehrt der Protagonist Jan, der mit dem Naziregime kollaborierte und wegen Landesverrat acht Jahre im Gefängnis saß, in seine Heimat zurück, die sich nun kalt und fremd anfühlt. Am Ende steht die Einsicht, dass sich die kommunistische Gesellschaft kaum von der in der Protektoratszeit unterscheidet.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit dürfe niemals abgeschlossen sein, auch wenn es oft schwerfalle. Man könne nicht vor ihr fliehen. Filip ging es auch immer darum, wie er selbst sagte, dass die Nachwelt aus der Geschichte und seinen Büchern Lehren zieht. Doch mit dem Schreiben verarbeitete er das Erlebte auch für sich selbst – wenn auch manchmal recht spät. Im Alter von 70 legte er mit „Der siebente Lebenslauf“ („Sedmý životopis“, 2001) einen autobiographischen Roman vor, in dem er anhand seiner Stasi-Unterlagen über sein Leben in den fünfziger Jahren berichtet. Filip reagierte damit auch auf eine 1998 ausgestrahlte Dokumentation des Bayerischen Fernsehens, in der er bezichtigt wurde, Anfang der Fünfziger zur Fahnenflucht angestiftet und den Plan anschließend bei der Staatssicherheit verraten zu haben. Für alle Beteiligten, mit Ausnahme von Filip, bedeutete dies bis zu acht Jahre Arbeitslager. Zudem soll sich der Schriftsteller 1970 zu einer Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst verpflichtet haben. Nachdem die Anschuldigungen publik wurden, nahm sich Filips Sohn Pavel das Leben.
Eine neue Heimat
Gegenüber der „Prager Zeitung“ bezeichnete er den Verrat im Jahr 1952 als „großes Unglück“ und neben dem Selbstmord seines Sohnes „eines der dunkelsten Kapitel in meinem Leben“. Allerdings bestritt er, mit der Staatssicherheit „wissentlich und willentlich“ zusammengearbeitet zu haben. Gleichzeitig verwies er auf die Zwänge eines totalitären Systems und die Bedingungen einer Einzelhaft, unter denen ein Mensch versagen könne. Filip wusste, wovon er sprach: Aufgrund seiner vermeintlichen „Unbotmäßigkeit“ und der „Unterwühlung von Staat und Gesellschaft“ war er 1960 nach einjähriger Mitgliedschaft aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, kurz darauf zur Zwangsarbeit in den Kohlegruben um Ostrava und 1969 sogar zu einer 18-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden.
Nach seiner Entlassung aus der Haft im Dezember 1970 verdingte sich Filip unter anderem als Kraftfahrer. Doch er gab nicht klein bei, schrieb weiter über die unrechten Zustände in seinem Land und setzte sich über das gegen ihn verhängte Publikationsverbot hinweg. 1974 wurde Filip mit seiner Familie ausgebürgert. Seit dieser Zeit lebte er in Bayern, zuletzt in Murnau am Staffelsee. Nun konnte er endlich als freier Schriftsteller arbeiten. Seinen Themen blieb er auch in der Bundesrepublik treu, schrieb über seine mährische Heimat, das kommunistische Regime und die tschechisch-deutsche Vergangenheit. Entstanden sind weitere Romane (unter anderem zwei Fortsetzungen der „Himmelfahrt des Lojzek Lapáček“), aber auch satirische Kurzgeschichten wie „Tomatendiebe in Aserbaidschan“ (1981). Im Exil erfand er die Figur des Arbeiters Josef Nowak, der gegen die Widrigkeiten des sozialistischen Alltags kämpft.
Gegenüber dem „Deutschlandfunk“ sagte Filip vor einigen Jahren, seine Bücher kennen keine „positiven Helden“. Sie seien am Ende immer die Geschlagenen. „Ich bin auf der Seite derer, die eben auf die Schnauze fallen, und ich selbst bin wahrscheinlich im Leben auf die Schnauze gefallen und deswegen mag ich die Leute so.“
Alte Feindbilder
Sein Hang zur satirischen Verzerrung und Fabulierlust zeigt sich auch im Roman „Café Slavia“ („Kavárna Slavia“, 1985/1993), der von einem Grafen erzählt, der über hundert Kinder zeugt, die Geliebte von Revolutionsführer Lenin verführt und als mumifizierter Lenin-Doppelgänger endet. Sein größtes Feindbild erkannte Filip in den totalitären Systemen und den sowjetischen Machthabern mit ihren im Osten Europas tanzenden Marionetten.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs widmete sich der Schriftsteller mehr als zuvor der Aussöhnung zwischen den Tschechen und den aus der Tschechoslowakei vertriebenen Deutschen. „Immer wieder habe ich in den Ruinen, die uns die tschechisch-deutsche Vergangenheit in meiner einstigen Heimat nach 1939 hinterlassen hat, Gemeinsamkeiten entdeckt, verschüttete Grundmauern, abendländisch-christliche Traditionen, auf welche wir eine gemeinsame Zukunft in Europa aufbauen können“, schrieb Filip im Jahr 1996. Der Mähre mit deutscher Staatsbürgerschaft war sowohl Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, des deutschen PEN-Zentrums als auch des Tschechischen Schriftstellerverbandes (Svaz českých spisovatelů).
Einige seiner Romane verfasste Filip sowohl auf Deutsch als auch auf Tschechisch. In seiner alten Heimat erschienen sie im Samisdat oder erst nach der Samtenen Revolution. Im Nachwort zum „Großvater und die Kanone“ („Děda a dělo“, 1981/2009), der von einem Erfinder in der k.u.k. Monarchie und einer umständlichen Militärbürokratie handelt und zuerst auf Deutsch erschien, erklärt Filip: „In den slawischen Sprachen, so auch in der tschechischen, ist es möglich, locker zu schwärmen, man kann vieles schön und poetisch sagen, (…) ohne dabei auf die Genauigkeit der informellen Aussage viel achten zu müssen.“ Im Deutschen hingegen „ist man doch mit der Tradition fest verbunden, mit der Tradition der exakten Denker und des genauen sprachlichen Ausdrucks.“ Doch das eine sei nicht schlechter als das andere, „eben nur anders“.
Für sein Werk ist Filip vielfach ausgezeichnet worden, unter anderem im Jahr 1986 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis für deutschsprachige Migrantenliteratur. Im Oktober 2012 erfuhr er schließlich auch in Tschechien Anerkennung, als ihm der damalige Präsident Václav Klaus die „Staatsmedaille für besondere Verdienste im Bereich der schönen Künste“ verlieh. Filip sagte damals gegenüber dieser Zeitung, die Auszeichnung erfülle ihn mit Stolz. Nach einer kurzen Pause stellte er sich allerdings die Frage, „ob es überhaupt einen Sinn ergibt, Literatur mit staatlichen Verdienstkreuzen auszuzeichnen.“
Am vergangenen Wochenende ist Ota Filip im Alter von 87 Jahren in Garmisch-Partenkirchen gestorben.
„Markus von Liberec“
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