„Auf einmal schien alles möglich“
Vor 50 Jahren trat in der Tschechoslowakei ein einmaliges Reformprojekt in seine Hochphase. Der „Prager Frühling“ sollte zum „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ führen
18. 3. 2018 - Text: Stefan Welzel
Miroslav Šik schaut durch die große Fensterfront des Café Louvre im Prager Zentrum. Gegenüber spiegelt sich die Sonne in den goldenen Verzierungen der prächtigen Jugendstilfassaden. Šik lehnt sich zurück und bestellt ein Bier. Der 64-jährige Professor pendelt seit vielen Jahren zwischen zwei Großstädten. Von Montag bis Freitag lehrt er Architektur an der Technischen Hochschule in Zürich, an den Wochenenden fliegt er in seine Heimatstadt. Was heute selbstverständlich erscheint, war es vor 1989 ganz und gar nicht. Es herrschten erschwerte Bedingungen vor, wenn man den Eisernen Vorhang überqueren wollte. Erst recht galt das für den Sohn von Ota Šik, den führenden Wirtschaftsreformer des „Prager Frühlings“.
Ota Šik war in der Tschechoslowakei der siebziger und achtziger Jahre nicht mehr willkommen. Denn unter anderem waren es auch seine Ideen eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus, die dem Land Ende der Sechziger eine kurze Phase der freiheitlichen Blüte brachte [dazu auch der Artikel Als Breschnews Miene sich versteinerte]. Im Frühjahr 1968 schien für die Tschechoslowaken der Traum eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ greifbar nahe, ehe er am 21. August an der Invasionsstreitmacht des Warschauer Pakts zerbrach und die kommunistischen Hardliner wieder das Ruder übernahmen. Die Šiks emigrierten nach Basel, später nach St. Gallen. Miroslav Šik war 1968 15 Jahre alt und führte in Prag ein privilegiertes Leben. Spross eines hohen Parteimitglieds zu sein, hatte einige Vorteile. Er durfte mit langen Haaren zum Unterricht gehen und musste keine Konsequenzen fürchten. Mit auf den Schulhof nahm er Platten der Rolling Stones oder der Beatles, die der Vater aus dem Urlaub „im Westen“ mitbrachte. „Die Jugendbewegung und Pop-Kultur gab es überall in Europa. Und ich war Teil dieser Bewegung, die gegen die Werte der Elterngeneration rebellierte. Was politisch in meinem Land vor sich ging, das habe ich damals nicht so richtig begriffen“, räumt Šik ein.
Trotzdem besuchte er im Frühjahr 1968 spontane Versammlungen von Studenten und Arbeiterbelegschaften in Prag. „Was ich dabei trotz meiner Jugend sehr wohl wahrnahm, war dieses unglaubliche Gefühl von spontaner Demokratie – oder sogar Anarchie“, so Šik. Jeder habe frei reden können. „Die Debatten wurden hitzig und kontrovers geführt. Das war neu.“ Zu jenem Zeitpunkt waren in dem sozialistischen Staat wirtschaftliche und politische Erneuerungen im Gange, die ein Jahrzehnt zuvor noch völlig undenkbar gewesen waren. Innerhalb des Apparates der Kommunistischen Partei (KSČ) rumorte es schon zu Beginn der sechziger Jahre. Die stalinistische Planwirtschaft zeitigte erste Krisen, aus denen man Auswege finden musste. Eine Gruppe pragmatischer Technokraten verschaffte sich in Gremien wie dem 200-köpfigen Zentralkomitee mehr Gehör.
1961 wurde Ota Šik als ein Vertreter dieser Gruppe Leiter des Ökonomischen Instituts der Akademie der Wissenschaften. „Die Partei gründete Kommissionen zur Bekämpfung der Krise und setzte meinen Vater an die Spitze“, erinnert sich Miroslav Šik. Von den angedachten Reformen wurden jedoch nur wenige Punkte umgesetzt. Die Ziele von Ota Šik waren aber die Aufhebung der starren Planwirtschaft sowie das Herstellen einer Konkurrenzsituation unter den sozialistischen Betrieben. Außerdem sollten die Unternehmen langfristig in den Besitz der Belegschaften übergehen und der Staat nur noch die makroökonomische Strategie fahren. Šik profilierte sich zum Vordenker des dritten Wegs, der aber nicht in den Kapitalismus münden sollte.
„Es ging darum, die Effizienz der westlichen Wirtschaft zu erreichen, aber nicht darum, sie zu kopieren“, sagt der Historiker Martin Schulze Wessel vom Collegium Carolinum in München. Der Leiter des Forschungsstelle für die Geschichte Tschechiens und der Slowakei sieht dabei Parallelen zur späteren Perestroika in der Sowjetunion, denn „in beiden Fällen ging es zunächst um eine Reform von oben, die dann eine gesellschaftliche Bewegung in Gang setzte“.
Den wirtschaftlichen Erneuerungen, die den konservativen Kommunisten um Generalsekretär Antonín Novotný gar nicht gefielen, folgten 1967 erste größere Protestbewegungen. So forderten Schriftsteller – darunter bekannte Namen wie Pavel Kohout, Ludvík Vaculík oder Milan Kundera – auf dem IV. Kongress des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes Ende Juni die Abschaffung der Zensur. Und am 31. Oktober marschierten über 2.000 Studenten demonstrierend zur Karlsbrücke, weil die Stromversorgung in ihren Wohnheimen nicht ausreichte. Die Niederschlagung dieses Protests und der Ausschluss berühmter Schriftsteller aus der Partei sollte sich für Novotný kurze Zeit später rächen. Selbst innerhalb des Politbüros fand Novotný keinen Rückhalt mehr für seine harte Linie. Der Wind begann sich zu drehen. Der Funke der Freiheit sprang immer weiter in Form spontaner Versammlungen und dem Mut der Journalisten und Bürger, ihre Meinung frei zu äußern.
Kurz nach Jahreswechsel folgte der politische Paukenschlag. Novotný verlor am 5. Januar 1968 seine Macht. Der neue Generalsekretär hieß Alexander Dubček, der als Kompromisskandidat in dieses Amt gespült wurde [dazu auch der Artikel Vor 50 Jahren begann der Prager Frühling]. Doch zunächst passierte einmal gar nichts, bis die Reformer Dubček dazu drängten, die alten Weggefährten Novotnýs abzusetzen. Ende Februar verkündete das spätere Parteipräsidiumsmitglied Josef Smrkovský, dass das „Büro zur Kontrolle aller Presseerzeugnisse“ aufgelöst wird. Nun durften Zeitungen wie die „Literární listy“ (Organ des Schriftstellerverbandes) ganz offiziell freien Meinungsjournalismus betreiben. „Die Zensur bestand aber schon nicht mehr, als sie aufgehoben wurde“, weiß Historiker Schulze Wessel. Ab März folgten schrittweise Wechsel in wichtigen Partei- und Regierungspositionen. Unter anderem wurde Ota Šik stellvertretender Ministerpräsident.
Jaroslava Fournier war im Frühjahr 1968 Studentin und 18 Jahre alt. Wie Miroslav Šik nahm sie an Versammlungen und Kundgebungen teil. Die Gymnasiallehrerin erinnert sich gut an den Geist der Stunde. Bei einem Spaziergang durch die Prager Innenstadt funkeln die Augen der zierlichen Dame, wenn sie an die Ereignisse von damals denkt. „Auf einmal schien alles möglich. Es war die Zeit der großen Hoffnungen. Man durfte Kritik üben und offen über die Entwicklung unserer Gesellschaft diskutieren. Überall brodelte es.“ Anfang März bewarb sich der liberale ehemalige Schulminister Čestmír Císař als neuer Staatspräsident. „Wir Schüler und Studenten waren Fans von ihm, gingen auf die Straße und skandierten ,Císař auf die Burg!‘“, sagt Fournier.
Letztlich wurde mit Ludvík Svoboda ein ehemaliger General Präsident. Neu war aber, dass es die tschechoslowakischen Kommunisten seit der Inauguration Dubčeks wagten, ihre Führungsleute selbst zu bestimmen, ohne dies mit Moskau abzusprechen. Dort und in anderen Hauptstädten der sozialistischen Bruderstaaten wuchs die Skepsis immer mehr. „An eine Bedrohung durch diese Länder dachten wir zu diesem Zeitpunkt nicht im Traum. Wir wollten ja keine Konterrevolution. Das Ziel der meisten war die Demokratisierung und Reformierung des Sozialismus“, erklärt Fournier. Der Prozess trat ab April in die nächste Phase. Weitere Wirtschaftsreformen, die die Handschrift Ota Šiks trugen, wurden angekündigt. Zudem wollte man die Rolle der Partei im Staat neu definieren. Jedoch „sind nicht viele Reformen als Gesetze realisiert worden“, sagt Experte Schulze Wessel. Denn es dauerte nicht lange, bis andere Staaten des Warschauer Paktes dem „Prager Frühling“ mit der Invasion am 21. August ein Ende setzten.
„Für mich war das wie ein Stich ins Herz“, sagt Jaroslava Fournier, die damals noch ihren Mädchennamen Kvasilová trug. Sie arbeitete im Sommer 1968 in einem Reisebüro in der Nähe des Wenzelsplatzes und sah die ersten sowjetischen Panzer durch Prag rollen. Trotz Okkupation konnte man in den folgenden zwei Jahren noch relativ leicht ausreisen. Fournier machte mehrmals Ferien in Westeuropa, blieb aber der Heimat bis zur Heirat mit einem Franzosen 1976 treu. Rund 150.000 Landsleute entschieden sich bis Sommer 1970 für das Exil. Danach zogen die neuen Machthaber um Gustáv Husák die Schrauben der Repression wieder an. Alexander Dubček musste zuvor alle seine Führungsämter abgeben. Ota Šik dankte schon am 27. August 1968 ab.
Sohn Miroslav befand sich zur Zeit der Invasion in Jugoslawien. „Irgendwie hatte mein Vater das Gespür für die drohende Gefahr und schickte uns Anfang August in die Ferien“, erzählt Šik. Sein Vater, der 2004 in St. Gallen stirbt, folgte kurz darauf in das blockfreie Land. Drei Wochen später emigrierten die Šiks in die Schweiz. Der jugendliche Rebell Miroslav reiste bis 1970 noch zweimal per Autostopp nach Prag, weil ihm „das Basel von damals zu provinziell war“. Der ältere Bruder Jiří ging schon Ende 1968 nach Prag zurück – und blieb. Er schickte Miroslav bei dessen letztem Aufenthalt mit Hilfe befreundeter Geheimdienstleute zurück. Von da an sollte es knapp zwei Jahrzehnte dauern, bis Miroslav Šik wieder zwischen Prag und der Schweiz reisen kann. Der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ bleibt eine kurze und einmalige Episode des Kalten Krieges.
„Wie 1938“
30 Jahre PZ