Auf Umwegen
Ein Pfarrer und ein Chorleiter fahren die Prager Metro durch den Untergrund
5. 3. 2014 - Text: Corinna AntonText und Foto: Corinna Anton
Martin Skočdopole kommt mit Kristina zum Treffpunkt, U-Bahn-Station I. P. Pavlova. Eine gute Viertelstunde Verspätung haben die beiden, was natürlich an Kristina liegt. „In der Nacht hat es sie erwischt“, sagt Skočdopole und schüttelt den Kopf. Dann lächelt er, ein bisschen wie ein kleiner Junge, der mit einer Eisenbahn spielt. „Ja, wir haben ihnen allen einen Namen gegeben.“ Kristina ist die Nummer 121, ein Zug der Prager U-Bahn. Mit bis zu 80 Stundenkilometern ist sie im Prager Untergrund unterwegs, auf der Linie C zwischen dem Bahnhof Holešovice und der Endstation Háje befördert sie in der Regel etwa 1.000 Fahrgäste und einen Zugführer. Der ist an diesem Morgen Skočdopole.
Weil Kristina in der Nacht mit Graffiti besprüht wurde, fährt er mit ihr jetzt ausnahmsweise nur bis zur Station Kačerov und dann ins Depot. Pech für Kristina, aber ein Glück für Skočdopole. Denn hier im Depot in Kačerov fühlt sich der Fahrer zuhause. Hier hat er schon als Kind gern Zeit verbracht, als sein Vater hier arbeitete, „von Anfang an“, wie Skočdopole sagt. Das heißt, schon kurz bevor die Prager Metro vor 40 Jahren ihren Betrieb aufnahm. Gefahren ist sein Vater aber nicht, er war für die Rolltreppen zuständig. Auch der Sohn musste erst einige berufliche Umwege gehen, bis er es in die Führerkabine einer U-Bahn geschafft hat.
Nach dem Abitur hat Skočdopole bei der Bahn als Elektriker gearbeitet und war Fahrdienstleiter in Řevnice, auf der Strecke zwischen Prag und Karlštejn, später wechselte er zur Prager Straßenbahn. „Aber eine Tram fährt sich doch eher wie ein Bus oder ein Auto“, meint der heute 39-Jährige. Sein Herz schlug schon damals für die „größeren Züge“: die Metro. Doch dann hatte er einen Unfall, zwei Jahre dauerte die Genesung. „Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, wie es weitergehen soll mit meinem Leben.“ Der gebürtige Prager war christlich erzogen worden, jetzt entdeckte er sein Interesse für die Reformationsbewegungen, für Martin Luther und Jan Hus. Er entschied sich, hussitische Theologie zu studieren, um Pfarrer zu werden.
Skočdopole lernte Latein, Griechisch und zwei Semester Hebräisch, im vierten und fünften Studienjahr predigte er als Kaplan – wieder in Řevnice, wo er schon Fahrdienstleiter gewesen war. Seine geistige Heimat hatte er bei den Hussiten gefunden, trotzdem fehlte dem Prager etwas in dem kleinen Ort, wo die meisten Menschen nur abends zum Schlafen nach Hause kamen und die Kirche oft leer blieb. Es war der Kontakt zu den „normalen“ Leuten. Also ging er zurück zu den Prager Verkehrsbetrieben, wo er von der Straßenbahn auf die U-Bahn umstieg und seit 2006 Metro-Fahrer ist. „Ich habe gemerkt, dass ein Umfeld, das mit der Kirche überhaupt nichts gemein hat, viel menschlicher und viel offener sein kann als die Kirche“, sagt der Pfarrer rückblickend. „Ungläubige können genauso gute oder sogar bessere Menschen sein.“ Seine Kollegen will er daher nicht missionieren, aber: „Wir verbringen viel Zeit miteinander, dabei ergeben sich Gespräche.“ Egal ob Familienprobleme oder philosophische Fragen: Wenn jemand mit ihm reden möchte, nimmt sich der Pfarrer Zeit, gegebenenfalls waltet er auch seines Amtes: Drei Kollegen hat er bereits getraut, zwei Kinder getauft und manchmal sieht er auch welche in einem der Gottesdienste, die er als Hilfsgeistlicher in seiner Freizeit abhält. Ganz verzichten möchte er auf das Predigen nicht. Aber auf das U-Bahn-Fahren auch nicht.
Fahrplan statt Partitur
Dass der Pfarrer nicht der einzige Zugführer ist, der über Umwege zu den Prager Verkehrsbetrieben gelangt ist, bestätigen die Zahlen des Unternehmens: Unter den U-Bahn-Fahrern haben derzeit 16 von gut 570 einen Hochschulabschluss, bei den Straßenbahnfahrern sind es 37 von knapp 1.370 und 32 von gut 2.000 Busfahrern haben ebenfalls ein Studium abgeschlossen. Gewiss ist das Bus- und Bahnfahren nicht für alle die Erfüllung eines großen Kindheitstraums. Wie viele schlicht keine Stelle in ihrem Beruf finden oder als Fahrer mehr verdienen als in ihrem Fachbereich, lässt sich schwer ermitteln. Aber die Leidenschaft für die Metro spielt offenbar nicht nur bei Skočdopole eine Rolle.
Zu den Hochschulabsolventen mit Faible für die U-Bahn gehört zum Beispiel auch der Organist und Chorleiter Lukáš Janírek. In seiner Heimatstadt Znojmo hat er eine Ausbildung zum Maschinenschlosser und das Abitur abgeschlossen, gleichzeitig aber schon seine Liebe zur Musik entdeckt und bald einen Chor dirigiert. Er besuchte das Konservatorium in Opava, um dort Chorleitung, Orgel, Klavier und Sologesang zu studieren und anschließend die Universität in Ostrava, wo er an der Pädagogischen Fakultät als Lehrer für Musikerziehung sowie in Chor- und Orchesterleitung ausgebildet wurde. „In dieser Zeit habe ich begonnen, über eine Zukunft als U-Bahn-Fahrer nachzudenken. Das hat mich schon seit meiner Kindheit beschäftigt, seit ich zum ersten Mal in Prag in der U-Bahn gesessen habe – diesen Moment werde ich nie vergessen.“
Mit diesen Gedanken ging er nach Prag, und mit dem festen Vorsatz, bei den Prager Verkehrsbetrieben einen Betriebschor zu gründen. Denn „alles hängt mit allem zusammen“, meint der 35-Jährige. „Wie die Musik fließt, so fließt auch der Verkehr. Genau wie in der Musik gibt es auch im Verkehr einen Takt, eine Geschwindigkeit.“ Der Fahrplan wäre demzufolge mit der Partitur einer Oper oder eines großen Orchesterwerks zu vergleichen: Beide legen fest, wer wann zum Einsatz kommt und wie die einzelnen Stimmen beziehungsweise Züge aufeinander abgestimmt werden. „Dass Musik und Verkehr eng verwandt sind, haben schon viele Musiker festgestellt. Antonín Dvořák zum Beispiel mochte auch Züge.“
Papagena im Tunnel
Janírek, der die Musik von Mozart und Rossini ebenso gern hört wie die von Robbie Williams und Roxette, mag aber nicht einfach Züge. Besonders fasziniert ihn an der Metro, dass sich fast alles unterirdisch abspielt, und dass es ein solches System hierzulande nur in Prag gibt. Also ging er tatsächlich nach Prag, absolvierte den Zugführerkurs bei der Prager U-Bahn, den er im März 2009 mit der staatlichen Prüfung abschloss, und gründete 2010 seinen Metro-Chor, in dem auch Straßenbahn- und Busfahrer willkommen sind. Mittlerweile hat der Chor um die 30 Mitglieder. Sie singen gerne volkstümliche Lieder, aber auch klassische Chorwerke und Gospel.
„Die Angestellten der Verkehrsbetriebe sind sehr musikalisch“, lobt der Dirigent, „hier zeigt sich, dass das Sprichwort stimmt: Jeder Tscheche ist ein Musikant“. Janírek hält sich aber auch im Dienst nicht zurück. Es kommt schon vor, dass er in der U-Bahn Mozarts Papageno-Arie aus der Zauberflöte singt, und zwar nicht leise: „Wenn ich singe, dann singe ich. Manchmal steigen dann Fahrgäste aus und schauen, woher die Musik kommt.“ Ein andermal wiederum lauscht Janírek selbst: auf die Geräusche der Metro, die ihn dann zu einem Lied inspirieren. Denn hin und wieder komponiert er auch etwas für seinen Chor, zum Beispiel das „Untergrundlied“, das zum 40. Geburtstag der Prager Metro im Mai aufgeführt wird.
Janírek ist mittlerweile schon herumgekommen im Prager Untergrund: Begonnen hat er 2008 auf der grünen Linie A, dann wechselte er zur roten Linie C, kurz zur gelben und wieder zurück zur roten. Zwar fährt er fast immer durch die Dunkelheit und die Automatik nimmt ihm viel Arbeit ab. Langweilig findet er den Job trotzdem nicht. Im Gegenteil: Die Metro fasziniert Lukáš Janírek immer noch. Aber genau wie die Züge niemals zu lange stillstehen sollten, will auch der Zugführer nicht auf der Stelle treten: „Das Lernen fehlt mir hier ein bisschen“, räumt der Musiker und U-Bahn-Fahrer ein. Deswegen studiert er seit einem Jahr nebenbei noch an der Universität Pilsen. Jeden Freitag beschäftigt er sich dort mit der tschechischen Sprache. Mit dieser Zusatzqualifikation könnte er vielleicht irgendwann wieder als Lehrer arbeiten. Ob er das will, weiß er aber noch nicht. Seinen Metro-Chor will er auf jeden Fall nicht verlassen.
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