Auf unbestimmte Zeit verschoben
Für Oktober wurde erneut eine Premiere terminiert, diesmal im Divadlo Alfred ve Dvoře, einem freien Theater nahe der Prager Nationalgalerie in Holešovice. Auch sie musste abgesagt werden. „Diesmal hatte sich ein Mitglied des Ensembles das Corona-Virus eingefangen“, schmunzelt Huber, mit einem gewissen Galgenhumor. Konsequenz nun: Eine Aufführung von „What Lies Beside the Hate“ ist auf unbestimmte Zeit verschoben. „Wenn ein Theater wie das Divadlo Alfred ve Dvoře, eines der größten und traditionsreichsten Off-Theater in Prag, derzeit nicht weiß, ob es seine Türen überhaupt jemals wieder öffnen kann, dann macht es keinen Sinn, jetzt über einen neuen Termin für unser Projekt nachzudenken“, merkt Huber an.
Zumal die Künstlerinnen Ende Oktober einen weiteren Rückschlag einstecken mussten. Auch eine Aufführung bei einem Festival in Gießen, wo Maria Huber ihren Hauptwohnsitz hat, wurde abgesagt. Sie ist deprimiert. „Man arbeitet und verändert und passt an. Man bekommt sehr viel positive Resonanz in der Frühphase – und dann findet es so oft einfach nicht statt.“
Huber arbeitet als freischaffende Dramaturgin für neues Musiktheater und zeitgenössische Performance sowie als Theaterpädagogin und als Audio- und Lichtdesignerin. Und sie will, trotz allem, nicht resignieren. Auch, um weiterhin mit der Prager Szene vernetzt zu bleiben. Sieht sie für internationale Projekte wie ihres durch und nach der Corona-Pandemie prinzipiell eine Gefahr in Zukunft? „Ich will es mir noch nicht eingestehen, auch wegen meiner Verbindungen nach Prag“, gibt sie ehrlich zu, „aber man muss sich klar werden, dass sich definitiv was ändern wird.“ Maria Huber ist sich jetzt nicht mehr sicher, ob sie künftig auch noch schnell mal nach Prag fahren und dort arbeiten kann.
Werden Fördergelder nach Corona möglicherweise eher für Projekte vor der Haustüre als für transnationale Produktionen zur Verfügung stehen? Das will Maria Huber nicht einsehen. „Es wäre ein fataler Fehler, die internationale Förderung aufzugeben, gerade auch für ein Thema wie Hass“, findet sie, „denn was gerade passiert, ist ja schon gegenseitige Abschottung.“ Daher sollten Verbindungen etwa zwischen Deutschland und Tschechien unbedingt bestehen bleiben. „Gerade durch Kulturarbeit, nicht nur durch Tourismus.“
Jonas Klinkenberg ist diesbezüglich skeptisch. Schon jetzt kann er ein Stück mit einem israelischen Kooperationspartner nicht verwirklichen, um weitere Projekte mit Italienern und Österreichern bangt er. „Alles ist in Gefahr“, stellt der Leipziger fest, „man muss gerade in dieser Situation sehr viel Kraftanstrengung reinstecken, um den internationalen Austausch am Leben zu halten, weil Reisen nicht mehr so einfach möglich ist.“
Zwar entwickeln sich, der Not gehorchend, „superspannende Möglichkeiten, auf Entfernung miteinander zu kooperieren“. Gleichwohl treibt ihn eine große Sorge um. „Wir sind abhängig von Fördertöpfen und wenn die Förderer jetzt nicht wach genug sind, sich der Situation anzupassen und darauf zu achten, dass man europäische Projekte weiter machen kann, dann sehe ich große Probleme für die künftige internationale Zusammenarbeit.“
Was ihm Hoffnung macht, sind Künstler wie Maria Huber und ihre Mitstreiterinnen. „Sie haben weiterhin ein unglaubliches Bedürfnis, international zu arbeiten, sodass es möglich sein sollte – irgendwie.“ Auch wenn dies künftig schwieriger und vielleicht nicht mehr so komfortabel sein wird, sollte es „nicht komplett einschlafen“. Klinkenberg macht jedoch eine wesentliche Einschränkung: „Ganz ohne Rückhalt in Politik und Verwaltung wird es nicht gehen.“
Sein „Lindenfels Westflügel“ unterhält seit 2003 ein Netzwerk aus Schauspielern, Figurenspielern, bildenden Künstlern und Musikern aus verschiedenen Ländern. „Kein festes, sondern ein internationales Ensemble“, wie Jonas Klinkenberg ausführt. Mit einigen Künstlern arbeite er schon sehr lange zusammen, andere sehe er nur einmal, immer kommen neue dazu. Ein Verein ist seit 2005 Eigentümer des denkmalgeschützten Gebäudes mit markanter Jugendstilarchitektur in der Hähnelstraße 27. Produktionen wurden bereits mit etlichen Preisen ausgezeichnet, so auch mit dem Theaterpreis des Bundes.
Mit „Prostor 39“ kooperierte der „Westflügel“ im Rahmen des Projektes „What Lies Beside the Hate“ zum ersten Mal. Künstler aus der Tschechischen Republik lud dessen Leitung in den letzten Jahren jedoch mehrfach nach Leipzig ein. Etwa das Theater Líšeň aus dem gleichnamigen Stadtteil in Brünn mit dem Stück „Putin is Skiing“. Klinkenberg geht von weiteren Besuchen der Künstler aus Mähren aus, auch wenn derzeit nichts geplant werden könne. „Und irgendwann wollen wir auch die Forman Brothers aus Prag nach Leipzig einladen.“ Aber dies sei nicht nur aufwändig, sondern auch teuer, meint der Impressario.
Konkret ist dagegen, dass der „Westflügel“ in den Tagen vor Weihnachten wieder „Krabat“ spielt, nach dem Jugendbuch des 1923 in Reichenberg (Liberec) geborenen Otfried Preußler. „Ein Kultstück in unserem Haus“, so Klinkenberg, „und ein Dauerbrenner, der jedes Jahr von unserem Publikum eingefordert wird.“ In Leipzig wird die berühmte Geschichte von einem Zauberlehrling in sehr dichter Atmosphäre erzählt, schlaglichtartig und mit einem Minimum an Worten. „Quasi das Grundrezept von Krabat, aber eingedampft auf eine sehr bildgewaltige Inszenierung.“ Die Akteure spielen als Menschen, aber auch mit Masken, sehr kleinen Handpuppen und Marionetten. Und mit viel Musik. „Das kann sich mit und nach jeder Szene sehr schnell wandeln.“
Weil diese Inszenierung so außergewöhnlich ist, tourt sie seit Jahren durch die ganze Welt. „Mit dem Inhalt können viele Menschen etwas anfangen, denn es geht um düstere Magie und Tod, aber auch um Liebe und Freundschaft – was viele interessiert.“ Deshalb setzte Klinkenberg den „Krabat“ in diesem Jahr zweimal auf sein Programm, auch schon im März. Dann kam der Lockdown. „Krabat“ war das erste Stück, das der „Westflügel“ absagen musste. Alle Vorstellungen waren ausverkauft. Doch viele Besucher forderten ihr Eintrittsgeld nicht zurück – der erste Zuschuss in der Corona-Zeit. Denn nun ist „auch die Existenz des Westflügels wie die fast aller freien Theater und anderer Veranstaltungsorte gefährdeter denn je“, notieren die Leipziger im November auf ihrer Homepage.
Jonas Klinkenberg erspart der Politik nicht den Vorwurf, auf die lange angekündigte zweite Welle ungenügend vorbereitet gewesen zu sein. „War eine schnelle Schließung im März noch unumgänglich, hätte man im Herbst nicht wieder spontan alles dichtmachen und stattdessen vorher klar kommunizieren müssen, ab welchen Infektionszahlen etwas passiert“, kritisiert er, „zumal viele Kulturbetriebe sehr gute Hygienekonzepte ausgearbeitet hatten.“ Besonders stört ihn die Ungleichbehandlung. „Es ist eine Frechheit, dass Kultur als Freizeiteinrichtung bezeichnet und deshalb geschlossen wird. Um Begriff und Wertigkeit muss noch eine große Debatte geführt werden.“
Zwar wurden Fördertöpfe mit viel Geld ausgeschrieben. „Doch auf meinem Schreibtisch liegen Massen von Anträgen, von denen die Hälfte für die Katz ist, weil ich sie gar nicht stellen darf“, erklärt Klinkenberg. Ein einziger Antrag von ihm sei bisher durchgekommen, gleich der erste. Er ermöglichte, dass der „Westflügel“ im Sommer wieder öffnen durfte. Nur wenn weitere Stellen kleine Summen für verschiedene Projekte befürworten, blicke er „relativ entspannt ins nächste Jahr“. Wenn nicht, „dann mache ich mir ziemlich große Sorgen um unser Haus“.
Wobei es dank permanenter Förderung durch die Stadt Leipzig seit 2011 nicht gleich um die Existenz geht. Sondern darum, ob der „Westflügel“ künftig auf Sparflamme fährt: kleine statt große Projekte. Weniger Gastspiele. Und damit eben auch mehr nationale statt internationale Arbeiten. Die permanente Unsicherheit mache Kreativität für Künstler derzeit extrem schwierig. „Sie können nie sicher sein, ob ihre Stücke überhaupt jemals ein Publikum finden, trotz hoher Qualität.“ Gleichzeitig müssen sie schon jetzt frische Gelder für neue Stücke beantragen, um zu überleben. Junge Künstler müssen prinzipiell um ihre Zukunft fürchten, weil Nachwuchsförderung völlig ausgeblendet werde, so Klinkenberg.
Mit „Krabat“ begann der „Westflügel“ schon 2010 eine grenzüberschreitende Kooperation mit der „Grupa Coincidentia“. Die Puppenspieler aus dem polnischen Białystok wollen so früh anreisen, dass sie sogar fünf Tage in Leipzig in Quarantäne verbringen, um vor Weihnachten spielen zu können. „Sofern wir dann öffnen dürfen“, unterstreicht Klinkenberg. Was in diesen Stunden noch kein Mensch weiß.
Und Maria Huber sehnt sich danach, ihr Projekt nach der jahrelangen Vorbereitung „endlich abschließen und ein Endprodukt präsentieren zu können – ohne einfach nur aufzuhören“. Jonas Klinkenberg hat großes Verständnis für sie. Planung, geplante Premieren, dann Absagen – das sei „unglaublich zermürbend“. Möglicherweise wird der Teil-Lockdown für „What Lies Beside the Hate“ am Ende zu einem Total-Lockdown.
„Theater sind unersetzlich“
(Fast) alles wie früher