Aus dem Dornröschenschlaf erweckt
Die schönsten Aussichten auf die Stadt – Teil 3: Vrtba-Garten
13. 7. 2016 - Text: Josef Füllenbach
Der Vrtba-Garten ist ein verborgener Ort. Völlig verdeckt von den Häuserfronten der Karmeliter- (Karmelitská) und der Neumarktgasse (Tržiště), zieht er sich den Nordosthang des Laurenzibergs (Petřín) hinauf und erreicht mit seinem höchsten Punkt etwa ein Drittel von dessen Höhe. Wer die schwungvollen Treppen von der unteren über die mittlere bis zur oberen Terrasse hinaufsteigt und auch die letzten Stufen zu einem kleinen Aussichtsbalkon bezwingt, wird vermutlich keine rasche Antwort auf die Frage finden, was mehr Bewunderung verdient: der Blick auf die Stadt oder das Juwel barocker Gartenbaukunst, das sich zu Füßen des Betrachters ausbreitet.
Seinen Namen verdanken der Garten und das an der Karmelitergasse gelegene verwinkelte Palais dem böhmischen Adelsgeschlecht Vrtba. Sezima von Vrtba wurde nach dem Scheitern des Aufstands der böhmischen Stände von Kaiser Ferdinand II. wegen seiner Treue zu den Habsburgern reich belohnt. So konnte er – wie so viele andere „Treue“ – auf günstige Weise Grundstücke und Gebäude erwerben, die die Habsburger von den Aufständischen konfisziert hatten. Dazu gehörte auch das heutige Vrtba-Palais mit den Weinbergen, die damals noch den dahinter gelegenen Hang bedeckten.
Palais und Weinberge gehörten bis dahin dem Freiherrn Christoph Harant von Polschitz und Weseritz. Er war einer der drei adligen Herren, die neben weiteren 24 Aufständischen 1621 in einem grausamen Schauspiel auf dem Altstädter Ring hingerichtet wurden. Dabei hatte er in den Wirren der Ständepolitik keine besondere Rolle gespielt, galt lange als halber Utraquist und halber Katholik und damit nicht gerade als Kandidat für das Schafott.
Aber Ferdinand konnte nicht vergessen, dass Harant im Sommer 1619 als Befehlshaber einer kleinen Artillerietruppe mit einigen Geschützen bis vor die Tore Wiens vorgerückt war und, ohne dass wirklicher Schaden entstand, ein paar Fenster der kaiserlichen Burg hatte beschießen lassen. Nach der Schlacht am Weißen Berg, die 1620 die Niederlage der böhmischen Rebellen besiegelte, zog sich Harant auf die Burg Pecka in Ostböhmen zurück. Dort nahm ihn Albrecht von Wallenstein fest und brachte ihn nach Prag, wo er bis zu seiner Hinrichtung am 21. Juni eingekerkert war. Böhmen verlor mit ihm zwar keinen bedeutenden Vorkämpfer der Reformation, aber einen gebildeten und weit gereisten Humanisten, Schriftsteller und Komponisten.
Von Atlas bis Merkur
Palais und Weinberge gingen schon im Jahr darauf an das Geschlecht von Vrtba; 90 Jahre später ließ Jan Josef von Vrtba, ein Enkel Sezimas, das Palais ausbauen. Er war 1712 zum Oberstburggrafen ernannt worden, also zum höchsten Beamten des böhmischen Königreiches, und brauchte eine repräsentative Residenz. Nach acht Jahren Bauzeit waren die Arbeiten am Palais 1720 beendet.
Mit der Gestaltung eines Barockgartens anstelle der Weinberge beauftragte Vrtba einige der hervorragendsten Künstler des böhmischen Barock: den Architekten Franz Maximilian Kaňka, den Baumeister Christoph Dientzenhofer, den Bildhauer Matthias Bernhard Braun und den Maler Wenzel Lorenz Reiner. Von Braun stammen zum Beispiel wertvolle Heiligenfiguren auf der Karlsbrücke und die Dreifaltigkeitssäule in Teplice (Teplitz), Dientzenhofer hat sich mit seinem Sohn Kilian Ignaz in der vom Vrtba-Garten einen Steinwurf entfernten Nikolauskirche verewigt.
Als Karl VI. im Juni 1723 mit seinem Hofstaat für einen mehrmonatigen Aufenthalt nach Prag kam, in dessen Verlauf er am 5. September zum böhmischen König gekrönt wurde, war das gartenbauliche Kunstwerk fertiggestellt und der stolze Besitzer konnte es seinem Herrscher vorführen.
Neben der Gesamtkomposition des Gartens schlagen die von Matthias Braun geschaffenen Figuren aus der griechisch-römischen Mythologie den Betrachter in ihren Bann. Sie schmücken Treppenaufgänge und Balustraden und wechseln sich mit reich verzierten Vasen ab. Über das gesamte Gelände verteilt finden sich Göttergestalten: Angefangen mit Atlas, der auf dem Bogen des Eingangstors steht, über Ceres und Bacchus als Statuen sowie Venus und Adonis als Fresken in der Salla Terrena bis zu Jupiter, Juno, Minerva, Diana, Vulkan und Merkur auf der Balustrade der oberen Terrasse.
Zudem wird die Aussicht auf die Stadt umso prächtiger, je weiter man sich über die Treppen und Terrassen dem höchsten Altan nähert. Von dort lässt man immer wieder den Blick von der Burg über die Nikolauskirche und die Türme der Altstadt schweifen, bis rechter Hand die frühbarocke Kirche Maria vom Siege auftaucht, die das Prager Jesulein beherbergt.
Nach 1799, als das Geschlecht von Vrtba ausstarb, wechselte das Palais mehrmals die Eigentümer; in der Zwischenkriegszeit war auch die Baudirektion dort untergebracht. Im Sozialismus wurde in dem weitläufigen Gebäude, in dem sich bereits kleine Wohneinheiten befanden, ein Kindergarten eingerichtet. Die untere Terrasse war zu einem Spielplatz mit Sandkasten anstelle des Brunnens umgewidmet. Unterdessen verwilderte der Garten völlig und versank in einen Dornröschenschlaf.
Gespenstische Gestalten
Seine Erweckung zu neuem Leben begann 1993; fünf Jahre später konnte der Garten der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden. Im ehemaligen Palais befinden sich weiterhin Mietwohnungen. Zum Glück, möchte man sagen, denn fast überall auf der Kleinseite mussten seit der Wende angestammte Bewohner den Büros von Verwaltung und Kommerz, den Hotels und anderen profitablen Verwendungen weichen. Jan Neruda hätte es heute sehr schwer, für seine „Kleinseitner Geschichten“ den aus dem kleinbürgerlichen Alltag gewobenen Stoff und die kauzigen Helden zu finden.
Keine von Nerudas Erzählungen spielt im Vrtba-Palais oder seinem Garten. Doch viele Geschichten erfindet das Volk selber und reichert sie in mündlicher Tradition an. So soll gelegentlich die erhabene Gestalt eines Adligen ohne Kopf die Stufen des Gartens hinauf- und hinunterschreiten, aber in dieser Umgebung so unpassend wirken, dass man sie erst gar nicht sieht. Wer das Schicksal des 1621 enthaupteten einstigen Besitzers des Anwesens bedenkt, dürfte dem Ursprung der Legende auf der Spur sein.
Nach einer anderen Geschichte zogen einst die vielen Mieter der kleinen Wohnungen im ehemaligen Palais nacheinander mit der Begründung aus, nachts seien immer wieder Geräusche zu vernehmen, vor allem im hinteren, dem Laurenziberg zugewandten Flügel des Gebäudes: mal geschäftiges Quietschen, mal ein Klingeln, dann wieder Türenschlagen oder abwechselnd trauriger und fröhlicher Gesang. Aber am unheimlichsten sei es gewesen, wenn auf den Gängen ein Heulen und angsterfülltes Rufen erscholl. Diejenigen, die einen Blick vor die Tür wagten, wollen gesehen haben, wie sich eine weiße Gestalt ohne Kopf durch den Garten bewegte.
Als endlich alle das Weite gesucht hatten und nur noch der Hausmeister in seinem Stübchen ausharrte, habe die Polizei eines Nachts in den Kellern unter dem hinteren Flügel eine mindestens zehnköpfige Falschmünzerbande ausgehoben. Die Halunken seien stets spätabends vom Laurenziberg durch den Garten in die Keller geschlüpft, um ihrem Geschäft nachzugehen. Einige von ihnen hätten nach Mitternacht Gespenster gemimt, um die verängstigten Bewohner zu verjagen und bei ihrem verbrecherischen Treiben umso ungestörter zu sein.
Wer heute den Vrtba-Garten besucht, muss keine Angst vor Gespenstern mehr haben, aber sollte darauf achten, den unscheinbaren Eingang in der Karmelitergasse 373/25 nicht zu verpassen. Es ist die Toreinfahrt eines Hauses, dessen Front kaum ahnen lässt, welch verzweigter Gebäudekomplex sich dahinter verbirgt. Hat man dieses Tor durchschritten, gelangt man nach etwa 25 Metern an einen barocken Torbogen, auf dem der unter der Last der Erdkugel ächzende Atlas steht: Ein erster Gruß von Matthias Braun. Und der Besucher weiß, dass er den Weg gefunden hat.
Vrtbovská zahrada. geöffnet: täglich 10 bis 18 Uhr (April bis Oktober), Eintritt: 65 CZK (ermäßigt 45–55 CZK)
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