Ausgezeichneter Tabubruch

Ausgezeichneter Tabubruch

Der Film „Obchod na korze“ gewann als erste tschechoslowakische Produktion einen Oscar. Vor 50 Jahren kam er in die Kinos

7. 10. 2015 - Text: Corinna AntonText: Corinna Anton; Foto: Ida Kaminská spielt in „Obchod na korze“ die Rolle der Frau Lautmann./Filmové studio Barrandov, MGM, Biograf Jan Svěrák, Samson Films

Schmal ist der Grat, der die Grenze zwischen Gut und Böse markiert. Und in manchen Situationen gibt es keine richtige Entscheidung. Als vor 50 Jahren in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik der Film „Obchod na korze“ („Das Geschäft in der Hauptstraße“) gedreht wurde, zählten solche Botschaften noch nicht zu dem, was auf der Leinwand gemeinhin vermittelt wurde. Gerade erst hat der Prager Frühling auch das Kino erfasst. Die „Tschechoslowakische Neue Welle“ bahnt sich ihren Weg mit stilistischen Experimenten und vorsichtiger Gesellschaftskritik, als „Obchod na korze“ am 8. Oktober 1965 Premiere feiert. Das Werk bricht mit Tabus und gewinnt ein Jahr darauf als erste tschechoslowakische Produktion den Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film.

Die Regisseure Ján Kadár und Elmar Klos erzählen die Geschichte des Schreiners Tóno in einer slowakischen Kleinstadt. Tóno ist ein fauler Taugenichts, wird dem Zuschauer in den ersten Minuten vermittelt; seine Frau Evelyna hat allen Grund zu klagen. Ganz anders Tónos Schwager: Er ist fleißig, erfolgreich – und Mitglied der Hlinka-Garde. Die paramilitärische Wehrorganisation des slowakischen Regimes beteiligte sich während des Zweiten Weltkriegs an der Deportation slowakischer Juden und ist für zahlreiche Gewalttaten verantwortlich.

Der Schwager macht Tóno zum „Arisator“, er soll das Geschäft der Jüdin Frau Lautmann übernehmen. Aber die versteht nicht, was Tóno von ihr will und er bringt es nicht übers Herz, sie aus ihrem Laden zu werfen. Stattdessen gibt er sich als ihr Gehilfe aus. Als kurz darauf alle Juden aus der Stadt deportiert werden sollen, ist Tóno in der Zwickmühle. Frau Lautmann hat noch immer keine Ahnung, was draußen vor sich geht. Er kann sie nicht in die Arme der Faschisten treiben, fürchtet sich aber auch vor den Konsequenzen, die ihm drohen, wenn er sie versteckt. Es kommt zur Auseinandersetzung, Tóno stößt sie in den Keller, damit sie nicht auf die Straße läuft, wo sich die Juden versammeln.

Der Film greift nicht nur als erster der damaligen Zeit das Thema Judenverfolgung auf. Er zeigt auch den slowakischen Staat und seine Bürger als Akteure, die sich aktiv daran beteiligen. Außerdem verzichtet er auf die üblichen Kriegshelden. Tóno ist weder mutig noch lehnt er sich bewusst gegen das Regime auf. Er hat einen guten Kern und wird am Ende dennoch zum Mörder. Aber für den Zuschauer ist es schwer, ihn als solchen zu verurteilen.

Von Warschau nach New York
Neben dem Oscar gewann „Obchod na korze“ weitere Auszeichnungen in Cannes sowie bei Filmfestspielen in Österreich und Italien. Die 1899 in Odessa geborene Ida Kaminská wurde für ihre Rolle als Frau Lautmann sowohl für den Oscar als auch den Golden Globe nominiert. Lautmann – die entgegen aller Klischees einen verlustreichen Laden betreibt – spricht in einigen Szenen Jiddisch, eine Sprache, die der polnisch-jüdischen Schauspielerin Kaminská mühelos über die Lippen geht. Sie gehörte in der Zwischenkriegszeit zu den Gründungsmitgliedern des Jiddischen Kunsttheaters in Warschau. Dorthin kehrte sie nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Sowjetunion zurück, später spielte sie am Broadway in New York, emigrierte dann nach Israel und starb 1980 in den USA.

Doch nicht nur international erntete „Obchod na korze“ Anerkennung. Kaminská und Jozef Kroner (Tóno) sowie Kadár und Klos, die ihr Drehbuch nach der gleichnamigen Erzählung des slowakisch-jüdischen Schriftstellers Ladislav Grosman geschrieben hatten, erhielten in der Tschechoslowakei den Klement-Gottwald-Staatspreis – für einen Film, der noch heute zu den sehenswerten Werken der heimischen Kinematografie gehört.


PREISGEKRÖNT: TSCHECHISCHE OSCAR-GEWINNER

Ivan Jandl: Den ersten Oscar für die damalige Tschechoslowakei holte 1949 ein Zwölfjähriger. Ivan Jandl gewann für seine Rolle in „The Search“ („Die Gezeichneten“) des US-amerikanisch-österreichischen Regisseurs Fred Zinnemann den Academy Juvenile Award, einen Ehren-Oscar für Kinder und Jugendliche. In dem Nachkriegs-Drama spielte er ein Kind, das die Schrecken des Konzentrationslagers in Auschwitz überlebt hat.

Ján Kadár und Elmar Klos: Der Film „Obchod na korze“ („Das Geschäft in der Hauptstraße“) des Slowaken Kadár und des Tschechen Klos wurde 1966 als erste tschechoslowakische Produktion in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet.

Jiří Menzel: Nur zwei Jahre nach „Obchod na korze“ wurde 1968 erneut eine tschechoslowakische Produktion zum besten ausländischen Film gekürt. Regisseur Jiří Menzels Tragikomödie „Ostře sledované vlaky“ (deutscher Titel: „Liebe nach Fahrplan“) basiert auf Motiven aus Bohumil Hrabals Erzählung „Reise nach Sondervorschrift, Zuglauf überwacht“ und spielt während des Zweiten Weltkriegs. Sie zählt zu den bekannteren Filmen der „Tschechoslowakischen Neuen Welle“.

Miloš Forman: Er wird zwar oft als „bekanntester tschechischer Regisseur“ bezeichnet, seine Oscars gewann Miloš Forman jedoch erst, als er schon in Amerika lebte und arbeitete: „Einer flog über das Kuckucksnest“ wurde 1976 in den Kategorien Bester Film, Beste Regie, Bestes adaptiertes Drehbuch, Bester Hauptdarsteller und Beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet; „Amadeus“ war 1985 in acht Kategorien erfolgreich, darunter Bester Film und Beste Regie. Beides waren jedoch US-amerikanische Produktionen. Seine Ende der sechziger Jahre in der Tschechoslowakei entstandenen Werke „Lásky jedné plavovlásky“ („Die Liebe einer Blondine“) und „Hoří, má panenko“ („Der Feuerwehrball“) waren für den Oscar nominiert.

Jan Svěrák: Ebenfalls auf die Liste der Kandidaten schafften es 1987 Jiří Menzel mit „Vesničko má středisková“ („Heimat, süße Heimat“) und fünf Jahre später Jan Svěrák mit „Obecná škola“ („Die Volksschule“). Ausgezeichnet wurde Svěrák aber erst 1997, als „Kolja“ zum Besten fremdsprachigen Film gewählt wurde. Seitdem wurden noch zweimal tschechische Produktionen nominiert: Jan Hřebejks „Musíme si pomáhat“ („Wir müssen zusammenhalten“) im Jahr 2001 und „Želary“ („Die Leute von Želary“) von Ondřej Trojan im Jahr 2004.

Markéta Irglová: Für die Ballade „Falling Slowly“, die Titelmusik zum irischen Film „Once“, erhielt die tschechische Sängerin Markéta Irglová 2008 zusammen mit dem irischen Musiker Glen Hansard den Oscar für den Besten Song.