„Beethoven gibt uns Trost“
Corona zum Trotz: Ein Gespräch mit dem belgischen Beethoven-Biografen Jan Caeyers über den großen Komponisten und dessen Beziehung zu Prag
23. 3. 2020 - Interview: Klaus Hanisch, Titelbild: Larisa Birta
PZ: Das Corona-Virus ist zum beherrschenden Thema weltweit geworden. Kommt Ihnen in diesen Tagen auch die 9. Sinfonie von Beethoven in den Sinn, diese oft zitierte „Ode an die Freude“ in dieser düsteren Zeit?
Jan Caeyers: Der Zufall will es, dass ich letzte Woche genau diese Sinfonie in Leuven dirigiert habe. Zu diesem Zeitpunkt nahm bei uns in Belgien die Zahl der Infizierten zu, ganz plötzlich vergrößerten sich Angst und Panik unter den Menschen. Komischerweise hat uns vor allem der dritte Satz sehr getröstet, dieser langsame Satz. Im Saal herrschte währenddessen eine unglaubliche Spannung. Und als dann der letzte Satz kam, breitete sich ein Gefühl von Hoffnung unter den Leuten aus, ganz deutlich. Ich spürte diese Verinnerlichung bei den Zuhörern. Die Lage ist bedrückend, jetzt braucht man nicht das Extrovertierte, sondern eher innere Stille.
Noch zu Jahresbeginn standen in Prag Konzerte mit Beethoven-Kompositionen auf dem Programm – im Januar bei der Eröffnung der renovierten Staatsoper wie Anfang Februar bei Konzerten der Prager Symphoniker FOK. Wie erklären Sie Laien in wenigen Worten das Genie Ludwig van Beethoven und seinen Stellenwert in der Musik?
Beethoven ist musikalisch wie außermusikalisch extrem bedeutend. Das hängt mit seinem persönlichen Schicksal zusammen, wie auch mit seinem Wirken in der Geschichte Europas Ende des 18. Jahrhunderts und am Übergang zu einer neuen Zeit und Gesellschaft Anfang des 19. Jahrhunderts. Musikalisch ist Beethoven ein großer Erneuerer gewesen. Seine Musik hat sich zwischen 1800 und 1825 so rasend schnell entwickelt wie nie zuvor in der Musikwelt, er hat die Grundregeln der Musik geändert. Gleichzeitig und auch bedingt durch seine Krankheit war er der erste freischaffende Komponist. Und es gibt auch eine ideologische Komponente: Beethoven war der erste Komponist, der eine Botschaft an die Menschheit hatte, nicht nur bezüglich der Musik. Deshalb können viele Menschen heute noch etwas mit ihm anfangen.
Wie lautet diese Botschaft?
Pauschal gesagt: Jeder Mensch hat die Möglichkeit, durch den Kontakt mit Schönheit ein besseres Leben zu gewinnen und seinem Leben einen Sinn zu geben. Also das rein Materielle in seinem Leben zu überwinden.
Die Virus-Krise hat völlig verdrängt, dass auch immer noch Beethoven-Jahr ist, zum 250. Geburtstag des Komponisten. Ihr Buchtitel bezeichnet Beethoven als einen „einsamen Revolutionär“. Was war das für ein Mensch, dieser Ludwig van Beethoven?
Beethoven hatte eine sehr komplexe Persönlichkeit. Er war einsam, aber nicht immer. Er war revolutionär, aber auch nicht immer – wie irgendwie jeder Mensch. Doch bei ihm war dies extrem, weil er immer versuchte, Außergewöhnliches zu erreichen. Durch sein Gehörleiden war er teilweise eingeschränkt, was sein Streben nach Besonderem aber nicht behindert hat. Beethoven war in der Welt der Musik tätig – wäre er Sportler oder Wissenschaftler gewesen, hätte er auch dort das Beste und Höchste angestrebt. Wobei er unerbittlich war, um ein Top-Niveau zu erreichen. Gleichzeitig war er aber auch ein sehr sozialer Mensch, emotional und humorvoll.
Eigenschaften, die man heute kaum mit ihm verbindet.
Das Problem bei Beethoven und seiner Rezeption ist, dass wir immer den alten Beethoven vor Augen haben. Also das Bild von einem leidenden, kranken, verschlossenen Menschen. Und es wurde so ausgelegt, als ob er immer so gewesen wäre. In Wirklichkeit war der junge Beethoven ein sehr lustiger Kerl, ein heiterer Mensch, der übrigens auch sehr viel Erfolg bei Frauen hatte.
Im September 2006 berichtete die „Prager Zeitung“ ausführlich über Beethovens Aufenthalte in Prag. Seine Kompositionen waren in Böhmen frühzeitig bekannt, die heimische Presse nannte ihn „Abgott“ und „Genie“. Was hat den Böhmen an Beethoven so gefallen, warum mochten sie seine Musik?
Schon in seiner Bonner Hofkapelle hatte Beethoven eine böhmische Kolonie, es gab dort viele böhmische Musiker. Mit typisch böhmischer Musikalität, einem sehr soliden Klang, einer fantasievollen Musik mit hoher Qualität. Beethoven lernte dies sehr früh kennen und hat es in seiner Musik berücksichtigt. Das Dramatische und Schicksalhafte in seinem Werk – also dieses „tatatataa“ – wird ein bisschen überbewertet und zu einseitig nach vorne gerückt. Darüber wird ein anderer Aspekt, nämlich das Lyrische und Sinnliche in seiner Musik, vernachlässigt. Und ich glaube, gerade das hat seine Wurzeln im Böhmischen.
Trotzdem gilt Prag in Bezug auf deutschsprachige Komponisten vor allem als die Stadt Mozarts – obwohl Beethoven zwischen 1796 und 1812 oft in Prag war. Warum ist Beethoven weniger im Gedächtnis geblieben?
Meine Hypothese ist, dass Mozart seinen großen Durchbruch als Komponist eher in Prag als in Wien erlebte. Durch „Die Hochzeit des Figaro“ sowie durch „Don Giovanni“, der dort Premiere feierte. Damit blieben zwei seiner wichtigsten Werke ganz eng mit Prag verbunden. Er hat dort das Fundament für seine große Karriere gelegt, weil Prag ihn eher in die Arme schloss als Wien.
Beethoven wurde in Prag mehr als „größerer Künstler im Spiel, als im Setzen“ geschätzt, wie ein tschechischer Biograf schrieb. 1798 war er hier auch letztmals als Pianist, wegen seines nachlassenden Gehörs, wie Sie jetzt schreiben. Hat ihm möglicherweise missfallen, eher als Musiker denn als Komponist gesehen zu werden?
Diese strenge Unterscheidung hat erst mit Beethoven begonnen. In seiner Zeit Ende des 18. Jahrhunderts machte man noch keinen Unterschied zwischen einem Virtuosen und einem Komponisten. Die meisten waren damals beides. Beethoven hatte einen großen Ruf als Improvisator und Virtuose, aber gleichzeitig auch komponiert. Das Komponieren trennte sich erst allmählich vom Spiel. Am Ende war Beethoven nur noch Komponist. Und seitdem gab es dieses Phänomen: Manche waren nur noch Komponisten, andere machten noch beides.
Wenn auch derzeit keine Veranstaltungen mehr durchgeführt werden, so bleiben doch die Tonträger, die man zuhause anhören kann. Beethoven wurde nachgesagt, auch tschechische Komponisten wie Smetana und Dvořák nachhaltig beeinflusst zu haben. Stimmt das?
Ich bin kein Experte für diese beiden Komponisten. Allerdings war Beethoven schon vor Mozart und Bach als Komponist ein Mythos. Nach seinem Tod haben sich alle Komponisten, ab dem 19. Jahrhundert, an Beethoven orientiert, auch in Frankreich und wohl auch in Böhmen. Man müsste genau forschen, wie viel Einfluss er tatsächlich auf die beiden Tschechen hatte.
Ein großes Geheimnis gab und gibt es noch heute darum, wer Beethovens „unsterbliche Geliebte“ war, die er in Prag traf. Sie tippen auf Josephine von Brunsvik. Warum ist es so wichtig, dass man diese Frau kennt?
Das gehört einfach zur Romantik. Liebesgeschichten reizen die Leute, umso mehr, wenn sie tragisch sind. Bei Beethoven ist es noch extremer, weil der große Künstler, der fast wie ein Hohepriester mit seinem Fach und seiner Berufung umging, Schwierigkeiten hatte. Er war dadurch also quasi ein Opfer, und das gehört in gewisser Weise zum romantischen Künstlerbild. Sollte es allerdings doch eine besondere Frau in seinem Leben gegeben haben, dann regt dies die Phantasie an. Dazu kommt eben, dass man nicht genau weiß, wer diese Frau war. Das macht es noch spannender – und alle Frauen in der Nähe von Beethoven „verdächtig“. Deshalb lässt jeder Brief und jede Begegnung von ihm Raum für Interpretationen. Die Tatsache, dass Beethoven große Leistungen vollbracht hat, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass er allein war und sich nicht um eine Familie kümmern musste.
Beethoven verband viel mit Adeligen mit Bezug zu Böhmen, wie den Fürsten Lichnowsky, der ihn „ein Adoptivkind“ nannte, aber auch mit Thun oder Lobkowitz, weil sie seine Mäzene waren. War er oft knapp bei Kasse?
Sagen wir so: Er war nach seiner Ankunft in Wien gezwungen, dort zu bleiben und sich durchzusetzen. Was nicht einfach war, denn die Zahl der Stellen war in Wien sehr beschränkt. Er sah sich nach einer festen Position um, bekam sie aber nicht. Wien war damals eine kleine Stadt mit einem relativ kleinen Musikleben, daher hatten es Musiker nicht leicht. Er hatte die Unterstützung von Adeligen, konnte sich damit auch als Lehrer ein Netzwerk von Schülern – und vor allem Schülerinnen – aufbauen. Und auch von Adeligen, für die er Privatkonzerte geben konnte. Später waren sie auch die ersten Kunden für seine gedruckten Werke. Damit banden sie umgekehrt auch Beethoven an sich und konnten ihn als Aushängeschild für ihre elitäre Stellung ausgeben. Und die böhmischen Adeligen waren seine größten Mäzene in Wien. Wobei Mäzene zwar Geld gaben, aber nicht mehr als nötig. Damit Beethovens Abhängigkeit noch größer wird. Das heißt konkret, Beethoven konnte ganz gut leben und hat auch nicht schlecht verdient, aber das große Geld verdiente er erst nach dem Wiener Kongress 1814/15. Beethoven erzählte gerne, dass er arm war und hat quasi noch auf dem Totenbett einen Brief geschrieben und nach London geschickt, um Unterstützung zu bekommen. Nachdem er gestorben war, hinterließ er bei der österreichischen Nationalbank aber relativ viel Geld. Er hat immer sparsam gelebt.
Auch in Prag ging es ihm oft ums Geld, weshalb er hier auch Anwälte beschäftigte, um von Kinsky Spenden zu bekommen. Was dürfte ihm von Prag vor allem in Erinnerung geblieben sein: seine Einnahmen, seine hier entstandenen Werke, seine Bekanntschaften?
Es gab in Prag schon Ende des 18. Jahrhunderts ein Publikum für ihn, Begeisterung für ihn. Aber mein Gefühl sagt mir, dass vor allem die Jahre 1811/1812 für ihn dort wichtig waren. Da lief vieles zu seinen Gunsten ab. Er hatte diese Geschichte mit Kinsky zu organisieren, die Sie zu Recht erwähnen. Und er traf durch Zufall dort eben seine „unsterbliche Geliebte“.
Im Jahr 1812 traf er im böhmischen Kurbad Teplitz auch Goethe. Warum verstanden sich diese beiden Giganten nicht, obwohl Beethoven doch sogar dessen „Faust“ vertonen wollte, wie Sie herausfanden?
Das lag vor allem am großen Altersunterschied: 21 Jahre – damit hätte Goethe schon Beethovens Vater sein können. Goethe war ein Mensch des 18. Jahrhunderts, er war noch sehr in klassischem Denken über Stand und Gesellschaft verhaftet. Dagegen war Beethoven ein sehr moderner Mensch, der ganz anders über die Gesellschaft dachte. Aber Goethe konnte Menschen lesen und analysieren, er hatte sofort gesehen, dass Beethoven eine große Persönlichkeit war und dass ihn eben jenes Streben nach Exzellenz und Radikalität auszeichneten. Das war jedoch nicht seine Art. Goethe war ein Diplomat und großer Intellektueller mit breitem Blick auf die Welt, ein multidisziplinärer Künstler, während Beethoven eher etwas Monomanisches hatte.
Sie schreiben, dass über Beethovens Aufenthalte in Prag „wenig bekannt“ und „nicht klar“ sei, wie viele Konzerte genau er in Prag gab. Und dass drei Monate des Jahres 1796 weitgehend „im Dunkeln“ liegen. Kann man daraus schließen, dass Beethoven auch nach 250 Jahren noch immer nicht „auserforscht“ ist und dass es weitere Ansatzpunkte über Leben und Werk auch für die nächsten Jahre gibt?
Absolut. Allerdings sind wir bei Beethoven relativ gut bedient. Wir haben fast alle seine Werke, kaum etwas ist verloren gegangen. Und wenn es noch etwas geben sollte, dann aus seinen Jugendjahren. Anders als etwa bei Mozart, von dem nach Auffassung von Forschern mehr als ein Drittel seiner Sinfonien verloren gegangen sind. Wir haben auch viele Skizzen von Beethoven und viele Briefe, die er geschickt und empfangen hat, über 2.000. Wir sind also jetzt schon sehr gut informiert über sein Leben und sein Werk. Auch weil er bereits zu Lebzeiten eine mythische Dimension hatte, weshalb schon damals viele Leute sehr bewusst Erinnerungen aufgeschrieben haben. Trotzdem muss es immer noch Quellen geben, die uns noch etwas sagen und weiter Aufschluss geben können. Gerade auch zu ihm und Prag, da kann man vermutlich noch Doktorarbeiten darüber schreiben.
Der vierte Satz der 9. Sinfonie von Beethoven gilt als offizielle Europahymne. „Alle Menschen werden Brüder“, dies wird als Gefühl der Zusammengehörigkeit und gegenseitiger Unterstützung interpretiert. Ist dies gerade jetzt dringlicher denn je?
Diese Universalidee besagt, dass sich alle Menschen auf der Welt auf irgendeine Weise miteinander arrangieren und lernen, auf friedliche Art und Weise miteinander auszukommen und zu leben. Deshalb kann dieses Stück uns jetzt Trost sein – auch weil es alle kennen. Es ist eines der wenigen Stücke, das wirklich überall bekannt ist. Welch ein Zufall, aber auch welch eine schöne Sache, dass diese Idee nun gerade im Beethoven-Jahr 2020 verbreitet werden kann.
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