Bilder eines Vergessenen
Das Nordböhmische Museum zeigt Aufnahmen von Rudolf Ginzel
29. 10. 2014 - Text: Franziska NeudertText: fn/čtk; Foto: Rudolf Ginzel/Severočeské muzeum Liberec
Als das Nordböhmische Museum in Liberec im Frühjahr sein Fotografie-Kabinett renovierte, kam ein unverhoffter Fundus wieder zum Vorschein: mehr als 500 Negativfilme und Glasplattennegative des weitgehend in Vergessenheit geratenen Rudolf Ginzel (1872–1944). Der in Liberec, dem damaligen Reichenberg, geborene Amateurfotograf hinterließ mit seinem Werk eine der bedeutendsten Sammlungen vom Beginn des letzten Jahrhunderts. „In seiner Heimatstadt kennt ihn jedoch kaum noch jemand“, bedauert Museumsdirektor Jiří Křížek.
Mit einer Ausstellung will das Nordböhmische Museum die Persönlichkeit nun wieder in Erinnerung rufen. Bis 1. März präsentiert es eine umfassende Werkschau Ginzels. Die rund 100 Aufnahmen aus den Jahren 1910 bis 1940 dokumentieren zugleich die Entwicklung der Amateurfotografie.
Rudolf Ginzel entstammte einem alten böhmischen Geschlecht. Das Talent zum Fotografieren schien ihm in die Wiege gelegt. Zur weitverzweigten Familie zählten unter anderem der bekannte Maler Jakob Ginzel (1792–1862) und der Fotograf Hubert Ginzel (1846–1880).
Rudolfs Ginzels Interesse galt zunächst den Sprachen. So studierte er nach seinem Abitur Philologie an den Universitäten in Berlin, London und Wien. Später lehrte er moderne Sprachen in Wien und Gablonz an der Neiße. 1902 ging Ginzel nach Reichenberg zurück, wo er eine Professur an der Staatlichen Realschule erhielt. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1932 unterrichtete er dort Deutsch, Englisch und Französisch. Nebenbei arbeitete er als Gerichtsübersetzer und veröffentlichte Artikel zu genealogischen Forschungen.
Schöner als die Zeit
Die Amateurfotografie setzte sich mit der Entwicklung der ersten Handkameras um 1880 durch. Viele Hobbyfotografen organisierten sich in Fotoclubs, die ihnen als Plattform für Ausstellungen und die Verbreitung ihrer Aufnahmen dienten. Ob auch Ginzer Mitglied eines solchen Klubs war, ist unbekannt. Auffällig jedoch ist, dass auch er sich – wie viele Fotografen in der damaligen Zeit – am sogenannten Pictorialismus orientierte. Ziel dieser Stilrichtung war es, das Gesehene nicht nur abzubilden, sondern durch ein Einfangen der Stimmung symbolisch zu überhöhen.
Ginzels älteste Aufnahmen stammen aus dem Jahr 1906. Mit seinem Objektiv fing er vor allem historische Denkmäler, Straßenzüge und unbekannte Winkel seiner Heimatstadt ein. Er beschäftigte sich besonders mit Licht- und Wolkenspiel, mit Spiegelungen auf der Wasseroberfläche oder winterlichen Schneespuren. „Seine Bilder waren so interessant, dass sie bereits vor dem Ersten Weltkrieg in Fachmagazinen erschienen“, erklärt Křížek.
„Ginzel nutzte die Fotografie als künstlerisches Mittel, um eine besondere Atmosphäre abzulichten. Offenbar gewöhnliche Motive entwickeln so einen Zauber, der den Betrachter in die damalige Zeit hineinzieht.“ Seine Zeit, so Křížek, hätte der Fotograf damit schöner gezeichnet als sie eigentlich war. „Nordböhmen war keine idyllische Gegend, dort gab es vor allem Industrie, die man auf den Bildern jedoch nicht wahrnimmt.“ Beispielsweise zeigt eine Aufnahme das Krematorium in Reichenberg, im Hintergrund sind die Schornsteine der nahegelegenen Fabrik zu sehen. Eine Kulisse, die „verblüffend aussieht, wirkt sie doch wie ein Relikt aus der Antike“, meint Křížek. Neben Stadt und Architektur widmete sich Ginzel auch der Landschaft. Sein Interesse galt unter anderem dem Isergebirge, das er in stimmungsvollen Naturaufnahmen einfing.
Dass Ginzels Fotografien gerettet wurden, kann als Glücksfall betrachtet werden. Da er noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs verstarb, wurden die Bilder des Deutschböhmen nicht vernichtet, sondern dem Nordböhmischen Museum vermacht. Die Schwarz-Weiß-Fotografien stellen heute bedeutende historische Zeugnisse der Stadt Liberec um die Jahrhundertwende dar.
„Markus von Liberec“
Geheimes oder Geheimnistuerei?