Blick nach Deutschland
Flüchtlingsheime statt Festspiele: In Deutschland reagiert(e) die Politik zu spät. Deshalb verläuft die Integration zu langsam. Ein Kommentar
27. 1. 2016 - Text: Klaus HanischText: Klaus Hanisch; Foto: European People’s Party/CC BY 2.0
Wer sich dieser Tage auf einem ARD-Sender noch einmal die „Tagesschau vor 25 Jahren“ ansieht, glaubt sich im Hier und Jetzt. Natürlich werde Deutschland von einem Zustrom an Menschen überflutet, sagte Innenminister Wolfgang Schäuble sinngemäß, und vielerorts frage man sich, ob das Land dieser Masse an neuen Bewohnern Herr werden könne. Aber: Die Aufgabe sei zu bewältigen. Damals ging es um Hunderttausende von Russlanddeutschen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine neue Heimat in Deutschland suchten. Heute sind es Millionen von Syrern oder Irakern, die vor Krieg und Verfolgung dorthin fliehen. Und nun lautet das Motto (noch): Wir schaffen das.
Wie damals hinkt die deutsche Politik in den letzten Monaten und noch in diesen Tagen den gesellschaftlichen Entwicklungen überraschend konzeptlos und wenig vorausschauend hinterher. Sie lässt damit nicht nur ausländische Regierungen – wie in Tschechien – ratlos zurück. In persönlichen Gesprächen fragen selbst wohlmeinende Tschechen immer wieder nach einem Plan für die deutsche Flüchtlingspolitik.
Schon im Herbst und Winter 1989/90 fand die deutsche Regierung – von historischen Ereignissen getrieben – erst mit gehörigem Zeitverlust Anschluss an die von ihr zu regierenden Menschen. Das ließ sich in jener Zeit noch mit einer nicht absehbaren Maueröffnung und der durch Gorbatschow plötzlich gewährten Chance auf eine Wiedervereinigung entschuldigen. Diesmal aber starben Flüchtlinge lange vorher im Mittelmeer, gab es bereits Zeltstädte in Jordanien, Griechenland und Italien, warnte selbst die träge EU vor unhaltbaren Zuständen, bis die deutsche Regierung endlich und aktionistisch Gesetz um Gesetz erließ. Beinahe verzweifelt wunderte sich der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gerade erst, warum die so dringend benötigten Stellen zur Anerkennung von Asylanten nicht schon vor einem Jahr geschaffen wurden.
Es war nicht die beste Idee der Bundeskanzlerin, im vergangenen Sommer merklich entspannt zu den Bayreuther Festspielen zu fahren statt bayerische Flüchtlingsheime zu besuchen. Und später ehrenamtliche bayerische Helfer und Kommunalpolitiker mit einem simpel zugerufenen „WIR schaffen das“ im Strom von Flüchtlingen allein zu lassen. Merkels Amtszeit kennzeichnet eine reaktive und keine agierende Politik. Damit und dank der Reformen ihres Vorgängers steuerte sie Deutschland souverän durch die Weltwirtschaftskrise ab 2008. Nicht umsonst halten sie amerikanische Magazine für die mächtigste Frau Europas. Merkel gibt – gewollt oder ungewollt – die Politik des Kontinents vor. Mit ihren Sparvorgaben diktierte die deutsche Regierung in den letzten Jahren die Innen- und Finanzpolitik von Staaten in Süd- und Westeuropa. Mit ihrer Asylpolitik überfordert sie nun ganz Europa. Wobei sie die Solidarität speziell der kleinen Visegrád-Staaten völlig falsch eingeschätzt hat.
Eine Herkulesaufgabe
Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder kritisierte zuletzt die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel als planlos und fern der Realität. Er bezeichnete es als gefährlich, wenn nationale Grenzen keine Bedeutung mehr hätten. Ohne eine seit langem geforderte konzeptionelle Einwanderungspolitik ist Integration eine Herkulesaufgabe. Erst recht bei Millionen von Migranten.
Die vielen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak haben in Deutschland mittlerweile verstanden, dass sie keine Bomben mehr fürchten müssen. Nun aber werden sie ungeduldig. Viele sind jung, erst um die 20, ohne Familie. Sie wollen endlich arbeiten, eine Beschäftigung. Und sie fordern eigene Wohnungen, am liebsten gleich Häuser. Nach (bezahlbarem) Wohnraum streben freilich auch sozial schwache Deutsche. Sozialer Zündstoff liegt vor allem darin, dass Bürger zunehmend um ihre Sicherheit im eigenen Land fürchten. Schon lange vor den Ereignissen von Paris und Köln erklärten deutsche Sicherheitsbehörden in vertraulichen Gesprächen, dass sie nicht mehr Herr der Lage seien. Seit Jahrzehnten erwies sich der Sport als eine tolle Möglichkeit für eine erfolgreiche Integration. So lange Turnhallen jedoch als Flüchtlingswohnheime dienen, scheidet diese Chance aus. Die Wirtschaft, für eine wirkungsvolle Integration unverzichtbar, gibt sich bedeckt, weil der Ausbildungsstand vieler Asylsuchenden für sie auf zu niedrigem Niveau liegt. Schon fürchten die Gewerkschaften einen neuen Billiglohnsektor.
Zu späte Reaktion der Politik, zu langsame Integration der Flüchtlinge. Selbst eine Große Koalition, eigentlich sinnvoll in Krisenzeiten, agiert mit ihrer Zerstrittenheit zunehmend kopf- und ziellos. Sie stärkt damit nicht nur in Deutschland extreme nationalistische Kräfte am rechten politischen Rand. Da sie sich nur auf den unsicheren Kantonisten Türkei verlassen will, wird immer unwahrscheinlicher, dass Angela Merkel Europa mit ihrer Flüchtlingspolitik noch auf eine (ihre) Linie bringt. So muss sie sich nicht wundern, wenn sich ihre Gegner in der eigenen Koalition und im europäischen Ausland immer stärker formieren. Spätestens nach den drei Landtagswahlen im März könnte ein Stimmungswandel nicht nur in der deutschen Bevölkerung eintreten, sondern auch bei ihren eigenen Abgeordneten, die Macht- und Mandatsverluste bei der Bundestagswahl 2017 fürchten. Spätestens dann wird sie sich sehr wahrscheinlich entscheiden müssen: Abkehr vom „Wir schaffen das“ oder Rücktritt.
Dann werden sich die Regierungen Tschechiens und anderer Länder im Osten (und zuweilen auch Westen) Europas endgültig bestätigt sehen.
„Wie 1938“
„Unterdurchschnittlich regiert“