Böhmen liegt am Stadtrand
Mitte des 18. Jahrhunderts gründeten protestantische Flüchtlinge die Gemeinde „Böhmisch-Rixdorf“ im heutigen Berliner Bezirk Neukölln. Durch das Viertel führen ein Archivar, ein Gärtner und eine Deutsch-Türkin
13. 10. 2015 - Text: Silvia HalfterText: Silvia Halfter; Foto: Die Stadtführerin Gül-Aynur Unzun lebt seit 40 Jahren in Neukölln/Marius Bergmann
Das karge Ackerland der böhmischen Flüchtlinge ist inzwischen Teil des turbulenten Lebens in der deutschen Hauptstadt. In Berlin-Neukölln, dem ehemaligen Rixdorf, schaut das Böhmische Dorf auf eine knapp 280-jährige Geschichte zurück und sieht die dritte Generation türkischer Gastarbeiter erwachsen werden. Bis heute hat das Dorf eine überraschend charmante Ausstrahlung bewahrt. Eine Ortsbesichtigung mit drei Neuköllner Protagonisten.
Die Stadtführerin
Gül-Aynur Unzun lebt seit 40 Jahren in Neukölln. Zusammen mit anderen türkischen Frauen und Mädchen bietet sie über „Route 44“, ein Projekt des Berliner Vereins „Kultur bewegt“, Stadtführungen durch das Viertel an. Dabei verwebt sie die Erinnerungen eines Gastarbeiterkindes mit der Historie des Ortes. Die Mutter von zwei Töchtern ist eine aufgeschlossene und selbstbewusste Person mit ordentlich flottem Berliner Mundwerk. Als sie mit sechs Jahren von Istanbul nach Berlin zog, weil ihre Mutter bei Osram arbeitete, änderte sich ihr Leben von Grund auf: „Ich kam mir wie im Keller eingesperrt vor, alles war dunkel.“ Die Identifikation mit den Böhmen, die 1737 auf Einladung von König Friedrich Wilhelm I. auf dem preußischen Sandboden neue Wurzeln schlagen sollten, ist ein wichtiger Teil von Unzuns Tour rund um den Richardplatz.
Der Großteil der Rixdorfer Böhmen kam aus dem Dorf Čermná im Riesengebirge. Dort war die Tradition der Herrnhuter Brüdergemeine, eine auf Jan Hus fußende Glaubensbewegung, seit dem Dreißigjährigen Krieg tief verwurzelt. Im Böhmen und Mähren der katholischen Habsburger jedoch hatte die Religionsfreiheit seit 1620 immer auf der Kippe gestanden und war 1726 schließlich obsolet geworden. Als die Jesuiten der Gegenreformation in Čermná die verbotene Kralitzer Bibel fanden, drohten harte Strafen und viele Familien entschlossen sich zur Flucht.
Zwar sind die Original-Kolonistenhäuser nicht erhalten, in der Richardstraße und Kirchgasse aber erinnern die niedrigen Bauten, zum Teil mit großen Holztoren, pittoresken Fensterläden, Gärten und Scheunen, an böhmische Vorbilder. Inoffizielle Wege erschließen das Hinterland. Straßen- und Familiennamen erinnern noch immer an das Tschechische: Zoufall, Motel, Wanzlikpfad, Niemetz- und Schudomastraße. In den zwanziger Jahren bemerkte Egon Erwin Kisch: „Und mancher geht dort als feiner Herr Spazier spazieren, der einst ein schlichter Procházka war.“ Zu diesem Zeitpunkt waren sogar noch einige Bewohner des Tschechischen mächtig.
Unzun, die bis heute keinen deutschen Pass hat, betont bei ihren Stadtführungen, wie lange die Integration der Böhmen gedauert hat. Die böhmische Siedlung, die anfangs mehr als doppelt so viele Einwohner wie das sich anschließende Deutsch-Rixdorf hatte, wurde misstrauisch beäugt. „Die deutschen Rixdorfer haben das Dorf nicht verstanden“, sagt Unzun und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: „Es war ein böhmisches Dorf für sie.“ Erst 1874 schlossen sich die zuvor eigenständigen Dörfer zur Gemeinde Rixdorf zusammen – eine Vereinigung, die im täglichen Leben durch Heiraten und Namensänderungen schon lange vollzogen war.
Der Archivar
Seit 2005 widmet sich der Museumsverein des Böhmischen Dorfes der Geschichte des alten Český Ryksdorf: In einem von zwei kleinen Räumen wird unter anderem die Brandkatastrophe von 1849 beschrieben, verursacht von einem Anwohner, der mit einer Schrotflinte auf ein Storchennest im Reetdach geschossen hatte. Gezeigt wird auch die Tracht der Gemeindeschwestern und der einzige verbürgte Gegenstand aus der alten Heimat: ein schlichtes Nudelholz.
Stefan Butt von der Brüdergemeine Berlin hat sich eingehend mit den Lebensläufen vieler Rixdorfer Böhmen beschäftigt. Doch die historischen Dokumente aus dem Archiv würden nur indirekt Auskunft über die damaligen Lebensverhältnisse geben. „Die meisten Texte wurden auf dem Sterbebett diktiert und folgen strengen formalen Konventionen“, erklärt Butt. So lesen sich die Verluste von Kindern oder Ehepartnern wie Randnotizen in einem gottesfürchtigen Leben, das ganz auf das Jenseits ausgerichtet war.
Auf dem „Böhmischen Gottesacker“ können Besucher die Prinzipien der Herrnhuter noch immer ablesen. Hier ruhen Frauen und Männer getrennt. Die Grabsteine liegen flach auf der Erde, nach und nach sinken sie tiefer in den Boden, bis sie schließlich ganz verschwinden. An der Friedhofsmauer sind alte Grabplatten angebracht. An ihren Inschriften kann man ein Stück Geschichte ablesen – tschechische Gravuren werden zu zweisprachigen, bis sie schließlich von deutschen abgelöst werden.
Unter den Glaubensflüchtlingen gab es auch Reformierte und Protestanten. Kaum in Berlin angekommen, stritten sich die Geistlichen um den korrekten Ablauf der Abendmahlsliturgie. Archivar Butt erzählt stets in ironischem Ton und lässt Widersprüche nicht aus. Das Herzstück der heutigen Brüdergemeinde, der Betsaal im 1962 erbauten Gemeindezentrum, wirkt schlicht und kühl. Der Altar befindet sich auf einem Podest. „Eigentlich sollte der Prediger ohne Altar auf derselben Ebene wie die Gemeinde stehen“, sagt Butt. Selbst bei den einst sehr progressiven Brüdern hat sich Tradition eingeschlichen – ihrem größten Denker Comenius aber wurde im Böhmischen Dorf ein besonderes Denkmal gesetzt.
Der Gärtner
Als 1992 die überlebensgroße Comenius-Skulptur aus der damaligen Tschechoslowakei auf einem Militärtransporter der Bundeswehr angeliefert wird, stehen die Sonnenblumen auf der Brachfläche im Böhmischen Dorf noch in voller Blüte. Zur Eröffnung des Comenius-Gartens drei Jahre später reist sogar der Prager Oberbürgermeister an. Wie Gül-Aynur Unzun sagt, glauben manche Kinder, die heute in die Grünanlage kommen, die Bronzestatue sei ein Abbild von Henning Vierck. Der große, ergraute Mann mit dem Rauschebart hat tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Pädagogen und Theologen, nach dem der Garten benannt wurde – Johann Amos Comenius (1592–1670) war der letzte Bischof der Brüder-Unität, die später als Herrnhuter Brüdergemeine eine zweite Blüte erlebte.
Seit 23 Jahren kümmert sich Vierck um die Grünanlage. Von ihm stammt die Idee für einen solchen Garten, der nach den Prinzipien von Comenius gestaltet ist. Hier trifft man ihn jeden Tag. „Der Garten ist eine wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion des Welt- und Menschenbildes von Comenius“, erklärt der 67-Jährige. Vierck hat Politologie, Geschichte und Philosophie studiert. Nachdem er sich mit dem Werk des Pädagogen auseinandergesetzt hatte, wollte er dessen Vorstellungen Gestalt verleihen.
Die Anlage symbolisiert den Weg durch acht Lebensbereiche – vom vorgeburtlichen Werden bis zum Tod, wobei das gesamte Umfeld, also auch der Böhmische Gottesacker, einbezogen wird. Nach dem Prinzip des von Comenius verfassten Schulbuchs „Orbus pictus“ geht es auf dem Rundweg nicht um Auswendiglernen, sondern um die „Sprache der Dinge“.
Heute kann man sich kaum vorstellen, dass sich auf dem Gelände des Gartens bis 1971 die legendäre Richardsburg befand – eine typische Berliner Mietskaserne mit fünf Höfen und beengenden Wohnbedingungen.
Vierck arbeitet gerade an einem neuen Projektantrag. Er möchte, dass Migrantenkinder den neu zugezogenen Bürgern künftig den Comenius-Garten erklären. Der Anteil der Bewohner mit Migrationshintergrund liegt in Neukölln bei über 41 Prozent; die Arbeitslosenquote ist mit 15 Prozent eine der höchsten in Berlin. „Fast niemand bleibt hier länger als sieben Jahre, kaum jemand ist sesshaft“, sagt Vierck.
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