Briefe an Prag
Zu Weihnachten 1937 schickte der Verleger Kurt Wolff einen Wunschzettel an das „Prager Tagblatt“. Manche seiner Wünsche für den Tourismus in Prag haben sich erfüllt. Doch ist die Situation deswegen besser als damals?
25. 12. 2017 - Text: Annette Kraus und Kurt Wolff (1937), Fotos: Annette Kraus, APZ
Samstag, den 25. Dezember 1937
Brief ans Prager Tagblatt
Prag – Dank und Wunschzettel
Kurt Wolff, der berühmte erste Verleger vieler Prager Autoren und spätere Kunstverleger, war auf der Durchreise in Prag und schickt uns jetzt aus Florenz nachfolgenden Artikel:
Jede Zeile über Prag sollte mit einer Liebeserklärung beginnen an die tausendjährige Schöne, die den Jahrhunderten wie einem Jungbrunnen in Glanz und Frische entsteigt. Prag ist für den fremden Besucher eine der erstaunlichsten, nein, die erstaunlichste Stadt Europas. Es wechselt unaufhörlich aus Mittelalter und Barockzeit in amerikanisches zwanzigstes Jahrhundert. Aber die Herrlichkeiten des alten Prag zu preisen, den Zauber der Kleinseite, die Großartigkeit des Hradschin, die noble Front der Paläste, das Heer himmelstürmender Barockengel, hieße wahrhaften Eulen nach Athen oder Buffets nach Prag tragen. Prag führt seinen Namen als schönste Stadt diesseits der Alpen zu Recht. Es erhebt sich hier nur die Frage: warum ist dieses so zentral in Europa eingebettete Kleinod so unbekannt, während Jahr für Jahr der Strom der Fremden Paris und Wien, Florenz und Rom überflutet? Möge die Stadt es nicht verübeln, wenn ein bezauberter Liebhaber ihrer spröden Schönheit ihr nach aufrichtigen Komplimenten auch einige aufrichtige Wahrheiten sagt. Er tut es ihr, er tut es vielleicht auch ein wenig sich selbst zuliebe, in der Hoffnung, daß ein oder der andere Wunsch erfüllbar ist.
Die größten Schwierigkeiten für den in Prag eintreffenden Fremden entwachsen zweifellos der Sprache. Schon verwirrt durch den Trubel und Verkehr in den Hauptadern der großen Stadt, fühlt er sich durch die Unfähigkeit, sich mit Schutzleuten und Passanten zu verständigen, durch das ganz und gar Unvertraute der slawischen Sprache, die ihm keinerlei Assoziationen an andere germanische oder romanische Sprachen erweckt, ganz und gar verloren. Die heutigen Reisenden sind eben leider oberflächlich und bequem, sie sind nicht mehr so eifrig, vor Antritt einer Reise ins Ausland Sprachstudien zu treiben. Und doch soll man ihnen das nicht übel nehmen. Sie sind verwöhnt, in fast allen anderen Reiseländern kommt man ihrer Unwissenheit nachsichtig entgegen. Und man sehe darin auch nicht, wie es manchmal geschieht, Mißachtung und mangelndes Interesse für das Land: keine Reise wird ohne ein günstiges Vorurteil für das Reiseziel angetreten, auch wenn der Vokabelschatz noch so gering ist. Wer es dem Fremden in Paris etwas leichter und heimischer machen will, wird um das Sprachproblem nicht herumkommen, denn man stolpert darüber auf Schritt und Tritt.
Wäre es nicht möglich, dem Fremden in seiner schwierigen Lage etwas entgegenzukommen? Könnte es nicht z. B. an den Hauptverkehrspunkten Schutzleute geben, die, sagen wir, etwas französisch verstünden, gerade soviel, um einen Fremden nach einem Hotel, einem Museum, einer Sehenswürdigkeit weisen zu können? Und die auch über die Museen und Sehenswürdigkeiten ihrer Stadt etwas Bescheid wüßten? Es käme dann vielleicht gar nicht mehr vor, daß man, nach der Bildergalerie in der städtischen Bibliothek fragend, von einem Schutzmann ins Kunstgewerbemuseum gewiesen wird und zu seinem Erstaunen nicht den Meister von Wittingau, sondern Glasvitrinen gegenübersteht. Wäre es zuviel verlangt, wenn Museen (die, gestehen wir es nur ein, in fast allen Städten der Welt von Fremden weit mehr besucht werden als von Einheimischen) neben der Inhaltsangabe und Besuchsordnung in tschechischer Sprache auch eine solche in den drei Weltsprachen anbringen würden? Wer an einem eisigen Wintermorgen im Nordsturm auf dem Hradschin lange und vergeblich herumgeirrt ist, um den Eingang zum Wladislawsaal zu finden, von dem aus die Besichtigung der Burg ihren Ausgang nimmt, wird die Bitte um ein Schild mit der Aufschrift „Entrée“ (diesem selbst Amerikanern verständlichen Allerweltswort) vielleicht nicht unbescheiden finden.
Und nun, da das Stichwort Museen und Sehenswürdigkeiten gefallen ist, sei hier kein kleiner, sondern ein großer, ein Herzenswunsch eingeschaltet: die Schaffung eines Museums für tschechoslowakische Volkskunst in der Hauptstadt der Republik, und zwar eines so zentral gelegenen, so daß auch der zeitlich beschränkte Reisende die erwünschte Gelegenheit hat, sich die Anschauung bodenständiger Kunst und Kultur zu verschaffen. Heute ist das ein etwas mühsames Beginnen, nicht nur zum Schaden des Volkes, das sein Genie nicht zur Geltung bringen weiß. Wer nicht zufällig das Glück hatte, die slowakische Ausstellung auf der Burg mitzuerleben, muß mühsam im Stadtmuseum, im ethnographischen Museum, im Kunstgewerbemuseum einen Eindruck von tschechoslowakischer Volkskunst zu gewinnen versuchen, während es gewiß nicht so schwierig wäre, ein nationales Volkskunstmuseum aus den Schätzen der drei genannten Museen zusammenzustellen und zu einer Hauptsehenswürdigkeit der Stadt zu machen. Daß und wie man in Prag Museen zu machen versteht, verrät sogar die provisorische Unterbringung der herrlichen Bilder- und Plastiksammlung in der Städtischen Bibliothek, die vorbildlich gehängt und gestellt ist.
Nun aber genug von Museen und Sehenswürdigkeiten; der Fremde ist müde, er hat sich sattgesehen, gehen wir heim ins Hotel. Aber dieses Wort erweckt wieder eine neue Frage, einen neuen Wunsch: Warum gibt es für den romantischen Fremden, für den Liebhaber Altprags, für Hochzeitsreisende, die Arm in Arm auf den verwunschenen Plätzen der Kleinseite, unter alten Bäumen, auf dem holprigen Pflaster des Großprioratsplatzes die zauberhafteste Zeit ihres Lebens genießen könnten, kein einziges Hotel mit „cachet“, wie der Franzose sagt? Nichts gegen die modernen, tadellosen Hotels im Stadtzentrum – sie erfüllen jeden Anspruch eines eiligen Reisenden, der geschäftlich in der Stadt zu tun hat. Aber der eigentliche Fremde, der zu seinem Vergnügen reist, der nicht Geschäfte machen will, sondern den Duft, die Poesie, das Geheimnis, die Geschichte, das Wesen einer Stadt zu erspüren sucht, der nicht durchreist, sondern verweilen möchte, empfindet es als schmerzliche Entbehrung, daß die Wohnungsmöglichkeiten in Prag so poesielos sind, daß es kein Hotel, keine Pension an der Moldau oder auf der Kleinseite gibt, mit dem herrlichen Blick über Dächer und Brücken und Kirchentürme.
Ist sich Prag denn seines altertümlichen Zaubers nicht bewußt? Weiß es nicht, daß es die gleiche Anziehungskraft ausüben könnte wie Venedig, Florenz, Rom, wenn es nur verstünde, seine Schönheiten ins rechte Licht zu rücken. Daß es das leider nicht versteht, muß, aus Liebe, gesagt werden. Auch authentische Schönheit bedarf heutigentags der Reklame, sonst bleibt sie im Winkel. Versuchen Sie einmal, in irgendeinem Reisebüro des Auslands, einen Prospekt über Prag und die Tschechoslowakei zu bekommen. Es wird keine leichte Sache sein. Überall sieht man Plakate: Das schöne Wien, Festspiele in Salzburg, Frühling in Florenz, Winter im Engadin – und wo bleibt Prag? Sicher fehlt es nicht an Bemühungen, aber sie rechnen nicht mit der Mentalität des durchschnittlichen Reisenden. Ich verweise nur auf ein Buch, das Prag seinen Gästen ins Hotelzimmer legt. Es ist in vier Sprachen abgefaßt, umfaßt 200 engbedruckte Seiten großen Formats („Prag seinen Gästen“, herausgegeben von der Tschechoslowakischen Fremdenverkehrszentrale) und enthält schlechterdings alles Wissenswerte über die Stadt, mit Einschließung des Gaswerkes, des Zentralschlachthofes, des Elektrizitätswerkes und der Viehmarkthalle. Ein gründliches Studium dieses Compendiums würde Tage in Anspruch nehmen und wer hat heutzutage dafür Zeit?
Der Fremde will verführt, nicht belehrt werden. Er will Bilder und Schlagworte. Ein Buch für die Gäste Prags, das seine Aufgabe wirklich erfüllt, nämlich den Fremden zu begeistern, ihn neugierig zu machen, ihn anzulocken und festzuhalten, müßte in erster Linie angefüllt sein mit schönen Aufnahmen von Kirchen, Palästen, Straßen, Plätzen, Winkeln, etwas einfangen vom spezifischen Zauber dieser Stadt, es müßte auf die Sinne wirken, nicht nur auf den Verstand. Man könnte von Frankreich lernen, das in der Fremdenpropaganda nicht davor zurückschreckt, Kathedralen mit Essen und Trinken zu verkuppeln. Prag, seine Gotik, sein Barock, seine Volkskunst, sein Schinken, seine Würste, seine Torten – das sind die Zauberworte, bei denen dem Fremden die Augen übergehen und der Mund wässert.
Vielleicht erscheint Ihnen ein solcher Vorschlag zu frivol. Aber ist Reisen nicht eine Sache des heiteren Lebensgenusses, selbst in ernster Zeit? Um es schmackhaft zu machen, bedarf es einer leichten Hand.
Kennen Sie die „Semaine à Paris“? Oder ähnlich geartete Drucksachen, die man dem Fremden in manchen Ländern morgens mit Zeitung und Frühstück aufs Zimmer bringt? Das ist ein in mehreren Sprachen zusammengestelltes Wochenmenu aller Theater, Kinos und dergleichen, ein Hinweis auf Ausstellungen, Vorträge, Konzerte und besondere Veranstaltungen, ein Wegweiser zu guten Restaurants. Haben Sie einmal als hilfloser Ausländer versucht, sich in den Spielplänen der Prager Theater zurechtzufinden? Es wäre gewiß mancher Fremde ein paar Tage länger in Prag geblieben, bei der Aussicht, die „Verkaufte Braut“ zu hören. Ich selbst konnte mir diesen Lieblingswunsch nicht erfüllen, denn leider fehlten mir gerade diese beiden Vokabeln und ich erfuhr erst einen Tag zu spät, was unter „Prodaná nevěsta“ zu verstehen war.
Und nun zum Schluß noch ein paar Kleinigkeiten: Muß es sein, daß die Bibliothek des Klosters Strahov das ganze Winterhalbjahr über Fremden unzugänglich ist? Muß es sein, daß die berühmten Fresken im Kreuzgang des Emausklosters, wie der Führer mit Recht sagt, „der bedeutendste Zyklus mittelalterlicher Malerei diesseits der Alpen“, nur am Ostermontag zu sehen ist?
Das ist, selbst für die Weihnachtszeit ein langer Wunschzettel und, wie jeder echte Wunschzettel, kein sehr bescheidener. Er soll nur noch einen letzten Nachsatz bekommen, damit sich das Ende dem Anfang füge: Jede Zeile über Prag sollte eigentlich mit einer Liebeserklärung enden, und so auch diese … Kurt Wolff.
Prag, den 25. Dezember 2017
Brief an Kurt Wolff … und ein bisschen auch an Prag
Lieber Kurt Wolff,
Sie würden Augen machen! Was würden Sie Augen machen! Nach der Lektüre ihres Briefs würde man Sie zu gerne durch das heutige Prag begleiten. Und noch lieber an Ihrer Stelle durch das Prag von 1937 laufen. Wie unvorstellbar schön muss das gewesen sein – ein Prag, das sich nicht den Touristen zu Füßen warf, sondern einfach ganz schlicht für sich selbst und seine Einwohner existierte. Wie eine richtige Stadt!
Aber Sie haben recht mit Ihrem Gebot zur Höflichkeit. Man darf nicht böse beginnen, denn eigentlich ist Prag immer noch am allerschönsten. Niemals kann man sich sattsehen an dieser Stadt. Zum Beispiel, wenn man aus Süden mit dem Zug hier eintrifft. Da ist rechts der Vyšehrad, die Überreste einer mittelalterlichen Burganlage auf einem hohen Felsen. In jeder anderen Stadt wäre das mit Sicherheit die Toptouristenattraktion. Aber Prag hat sie gar nicht nötig. Links ergießt sich nämlich das sagenhaft perfekte Ensemble aus Burg, Burgberg, Brücken, Inseln, goldenen Dächern, Kirchtürmen, Bürgerhäusern … Nicht zuletzt die majestätische, alles beherrschende Moldau, und dahinter immer noch mehr Paläste, noch mehr Gärten, noch mehr Museen, noch mehr Klöster. Wer sich am Reißbrett die perfekte mitteleuropäische Stadt ausdenken möchte, der kann wirklich nicht an Prag vorbei. Das alles kennen Sie, Herr Wolff, und der Zauber ist ungebrochen, das können Sie glauben.
Manche Ihrer Wünsche haben sich erfüllt, mehr als erfüllt – leider. So hätten Sie das bestimmt niemals gewollt. Zu wenig Touristen haben Sie beklagt, damals, 1937. Im vergangenen Jahr waren es über acht Millionen. Damit hat Prag Städte wie Wien und Florenz längst überholt – in Europa sind nur noch Paris, London und Rom beliebter. Und nun stellen Sie sich das vor: Die engen Gassen zwischen Altstädter Ring und Karlsbrücke. Voller Menschen! Voller Souvenirshops, aus denen laute Musik auf die Straßen dröhnt, und das bis mitten in die Nacht! Voller Touristen, die sich durch die Straßen wälzen und mit Selfie-Sticks auf der Karlsbrücke posieren (Ach so, Selfie-Sticks sind Stäbe, mit denen man sich selbst mit seinem Smartphone fotografieren kann. Ja, und Smartphones sind … obwohl, lassen wir das besser, Herr Wolff! Es ist auch nicht so wichtig, welche Geräte wir heute mit uns herumschleppen, die Menschen sind nämlich immer noch die Gleichen.)
Es ist natürlich auch völlig verständlich, dass sie aus aller Welt nach Prag kommen wollen. Das kann man niemandem absprechen, vor allem, wenn man selbst als Gast gekommen und dageblieben ist, weil es so schön ist. Aber irgendwie … hat es die Stadt mit der Frivolität ein wenig übertrieben. Die haben sie sich ja damals gewünscht: mehr „heiteren Lebensgenuß“, mehr Würste und Schinken statt langweiliger Propagandabücher mit Jahreszahlen und unnötigen Details. Das Touristenprag von heute nimmt die Sache mit der Heiterkeit überaus ernst. Hier wird auf die Sinne gewirkt, was das Zeug hält. Der Verstand kann zu Hause bleiben. Überall gibt es Absinth und Bier und Marihuana, und Wurst auch. Sie müssten einmal über den Wenzelsplatz gehen, jetzt zur Weihnachtszeit! Alles blinkt und glitzert und die Wurstbuden sprechen sogar auf Deutsch zu den Vorrübergehenden, um sie zu noch mehr Wurstgenuss zu animieren! Wurst und Schinken sind heute aber längst nicht mehr so wichtig wie Alkohol. Sie können T-Shirts kaufen mit der Aufschrift „Prague Drinking Team“ und „Best Party of the Year“. Wo immer Sie heute über Prag lesen, werden Sie erfahren, dass Bier und Schnaps unglaublich billig sind. Als sei das tatsächlich das Beste, was es über Prag zu sagen gibt. Halb England säuft sich hier vor der Hochzeit das Hirn weg. Natürlich sind es nicht nur die Engländer, natürlich ist das völlig übertrieben. Aber wenn sogar die gar nicht zimperliche „Sun“ besorgt über die Folgen der Junggesellenexzesse in Prag berichtet, dann muss doch irgendetwas dran sein. Die größte Touristengruppe stellen übrigens die Deutschen. Und auch sie fallen oft nicht gerade angenehm auf.
Wer keine „Stag night“ braucht, kann sich heute übrigens auch einfach die Füße massieren lassen, Thai-Massage im Schaufenster für Neuneuroneunundneunzig! Oder sich Souvenirs kaufen wie zum Beispiel lustige Schwejk-Bieröffner. Oder eine Lenin-Gummimaske. Das haben sie ja noch mitbekommen – bis 1989 herrschte in der Tschechoslowakei der Sozialismus. Bis heute wirft man das alles gerne in einen Topf. Lenin, Putin und der KGB haben mit Tschechien nicht wirklich viel zu tun – aber wer nimmt es schon so genau, alles Ostblock!
Und was haben wir da noch, zwischen Alkoholdusel und Ostblockgrusel? Eine Kafka-Marionette. Ja tatsächlich, Herr Wolff, und da würde man wirklich zu gerne Ihr Gesicht sehen. Sie waren einer der ersten, die das Talent dieses Mannes erkannt haben. 1913 haben sie „Das Urteil“ verlegt, später noch weitere Werke. Ob Sie den Schriftsteller von damals im heutigen Souvenirkafka überhaupt wiedererkennen würden, ist allerdings die Frage. Im Touristenprag von heute spielt Kafka nämlich das Schreckgespenst mit hohlen Wangen und dunklem Anzug. In einem eigenen Museum auf der Kleinseite wird man ihm schon eher gerecht. Dort steht er auch als Vertreter des tschechisch-jüdisch-deutschen Zusammenlebens in Prag, das die Deutschen nur wenige Jahre nach ihrem Weihnachtsbrief rigide zerstört haben. (Mit ihren „ernsten Zeiten“ haben Sie das nur ganz subtil angedeutet, 1940 mussten Sie selbst vor den Nazis nach Amerika fliehen.)
Wie absurd müsste es Ihnen übrigens erscheinen, dass die Landessprache im touristischen Prag heute fast ganz verschwunden ist! In Ihrem Wunschzettel klagten Sie, es sei schwer, sich ohne Kenntnis des Tschechischen zurechtzufinden. Wer dagegen heute durch das Stadtzentrum läuft, dem könnte es eher schwer fallen, sich geographisch zu orientieren – ist das noch Tschechien oder doch eher irgendein touristisches Niemandsland? „Change“ und „Dumplings“ und „Alcohol“ schreit es einem entgegen. Grelle, übergroße Neonschriften dominieren Fassaden von jahrhundertealten Häusern, ganze Straßen zwischen Karlsbrücke und Altstädter Ring. Und meistens ist es gar zu offensichtlich, dass es hier weniger um Orientierungshilfe geht, sondern darum, dem Touristen das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Was soll man sich also wünschen, heute, 80 Jahre nach ihrem Wunschzettel von 1937? Die Sache ist natürlich schwierig. Man kann die acht Millionen nicht einfach nach Hause schicken. Außerdem ist Prag kein Einzelphänomen. Ähnliche Erscheinungen des Massentourismus beklagen viele hoffnungslos überlaufene Städte – in Barcelona zum Beispiel gab es im vergangenen Jahr Demonstrationen gegen die Touristeninvasion. Dass die Entwicklung in Prag manchmal besonders rasant und raubtierhaft erscheint, liegt auch an der jüngeren Geschichte. Denn bis 1989 war Prag hinter dem Eisernen Vorhang versteckt. Es konservierte gewissermaßen seinen altertümlichen Charme. Dorthin zu reisen bereitete Mühe, vor allem, wenn man aus dem Westen kam. Und was dem Touristen geboten wurde, bestimmte zu dieser Zeit der Staat. Als das Regime stürzte, rissen sich oft die Gierigsten die Geschäfte mit den Gästen unter den Nagel. Dass Tourismus auch im Kapitalismus reguliert werden sollte, hat sich erst nach einer gewissen Zeit durchgesprochen. Bis heute bleiben die Versuche der Stadtoberen oft hilflos.
Man käme dem Besucher nicht entgegen, haben Sie 1937 beklagt. Heute dagegen bestimmt der Tourismus die Stadt. Die Einheimischen haben gelernt, mit dieser Plage zu leben. Sie laufen Schleichwege um die Menschenströme herum und haben sich Inseln mitten in der Stadt geschaffen, die aus gutem Grund in keinem Reiseführer auftauchen. Einige wollen sich Ihre Stadt nicht völlig wegnehmen lassen. Der Journalist Janek Rubeš zum Beispiel kämpft gegen die Auswüchse des Massentourismus. Im Internet macht er auf die kriminellen Machenschaften von Geldwechslern und Taxifahrern aufmerksam und versucht, die Touristen auch für unbekanntere Orte außerhalb des Bermudadreiecks Burg-Brücke-Wenzelsplatz zu begeistern.
So kann also auch dieser Wunschzettel mit einem Hoffnungsschimmer enden. Wie Ihr Vorbild vor 80 Jahren ist er ein wenig unbescheiden geraten, und vielleicht auch ein wenig naiv. Aber wie Sie sagten, zu Weihnachten sollte diese Offenheit einmal erlaubt sein. Prag ist immer noch die Schönste, das steht fest. Zum unbekannten Kleinod von damals wird die Stadt nicht wieder werden. Sie sollte aber gut aufpassen, dass sie ihren Charme nicht verliert. Annette Kraus.
Stadtführer in Not
Glückwunsch, Prag 4!